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Überlegungen zum Einsatz von Cannabinoiden in der Medizin
Jatros
Autor:
Dr. Martin Pinsger
Schmerzkompetenzzentrum<br> Bad Vöslau, Österreich<br> E-Mail: m.pinsger@speed.at
30
Min. Lesezeit
14.12.2017
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<p class="article-intro">Das Endocannabinoid-System ist ein lebenswichtiges Transmittersystem zum Erhalt der Homöostase im menschlichen Organismus. Wenn auch Cannabinoide gerade in der Psychiatrie kontrovers diskutiert werden – Stichwort Missbrauch – sollten die positiven Aspekte dieser Wirkstoffklasse nicht übersehen werden.</p>
<hr />
<p class="article-content"><p>Durch die Entdeckung des Endocannabinoid- Systems (ECS) Mitte der 90er-Jahre des letzten Jahrhunderts ist es nun zu einer Entmystifizierung und Renaissance der Cannabinoide im medizinischen Bereich gekommen. Hauptaufgabe dieses Systems ist die Erhaltung der Homöostase und der interzellulären Kommunikation. Somit mischt das ECS fast überall mit und verursacht recht unterschiedliche Wirkungen, je nachdem, in welcher Situation sich der Organismus gerade befindet. Diese Funktion des ECS ist vorerst recht verwirrend, hat aber für spezielle Patientenprofile große Vorteile. Gerade im Zusammenhang mit chronischem Schmerz ist dieses typische Profil<sup>1</sup> aus Schmerz, Schlafstörung, Muskelhartspann, Depressivität, Ärger, Aggression, Erschöpfung und Appetitlosigkeit nicht unüblich! Anstatt nun rein Symptome kontrollierend verschiedene Medikamente zum Einsatz zu bringen, hat sich in diesen Fällen der kausale Einsatz von Cannabinomimetika als vorteilhaft erwiesen. Durch den Umgang mit Cannabinoiden wird auch sehr schnell klar, dass die Homöostase des Patienten ein Problem dessen Achtsamkeit ist und nicht Aufgabe allein des Arztes oder der Ärztin sein kann. Mit zunehmendem Alter nimmt die Bedeutung der Cannabinoide zu, da ein resilienter Lebensstil mit ausreichend Regeneration, Schlaf und Abgrenzung für den Gesamtgesundheitszustand eines Menschen verantwortlich ist.</p> <p>Somit erklärt sich der derzeitige Boom der Cannabinoide in vielen medizinischen Bereichen als Folge eines essenziellen über Jahrzehnte in Vergessenheit geratenen Transmittersystems.</p> <p>Die Psychiatrie hat sicherlich durch den häufigen Missbrauch dieser Substanzklasse zu diesem Thema einen kontroversen Bezug. Auch gibt es derzeit keine Evidenz zum Einsatz von Cannabinoiden im psychiatrischen Bereich außer bei posttraumatischer Belastungsstörung<sup>2</sup> und bei chronischem Schmerz.</p> <p>Trotzdem werden die nächsten Jahre durch viele Publikationen auf dem Gebiet der Cannabinoide, vor allem auch in der Grundlagenforschung, die Präsenz dieser Medikamentenklasse auch in der Psychiatrie erhöhen.<sup>3</sup></p> <p>Mit circa 11 Milliarden CB1-Rezeptoren im Gehirn gehört dieser G-Protein-Rezeptor zum häufigsten dieser Art. Dazu kommen noch CB2-Rezeptoren an Immunzellen und im peripheren Gewebe sowie CB3(GPR 55)-Rezeptoren im Darm. Cannabinoide sind seit Jahrtausenden im regelmäßigen medizinischen Einsatz und gehören damit zur am längsten bekannten psychotropen Substanzklasse.</p> <p>Im Gegensatz zu Dopamin und Serotonin wird die endogene Transmittersubstanz Anandamid oder 2AG postsynaptisch aus der Membran direkt ausgeschieden und wirkt auf den präsynaptischen Rezeptor. Die Wirkung ist somit „on demand“ und der Effekt ist eher sanft modulierend. Welche Reaktionen dabei ausgelöst werden, hängt vornehmlich von der Ausgangssituation des Organismus ab.<sup>4</sup></p> <p>Für psychiatrische Aspekte interessant könnte auch der Crosstalk mit anderen Hormonen und Transmittersubstanzen sein. Ein deutlicher Zusammenhang in der Wirkung von Opioiden mit Cannabinoiden führt zu einer verbesserten Schmerzreduktion bei deutlich geringerer Opioiddosierung (Reduktion der Opiatdosierung circa auf 60 % ). Das Zusammenwirken von Kortikoiden mit Cannabinoiden moduliert die Reaktion auf Stresssituationen, das Zusammenwirken von Östrogen mit Cannabinoiden beeinflusst die Hypervigilanz bei Frauen. Die Kooperation von Cannabinoiden mit dem Orexin/Hypocretin-System beeinflusst Schlaf und Nahrungsaufnahme.</p> <p>Seit den 1990er-Jahren wurden zum Thema Cannabinoide insgesamt ca. 24 000 Publikationen veröffentlicht. Eine für mich wichtige Zusammenschau ist die Veröffentlichung der National Academies Press mit einem Review aller 10 700 englischsprachigen Publikationen.<sup>3</sup> Diese Veröffentlichung zeigt auch deutlich die Schwachstellen der Forschung im Bereich der Cannabinoide auf und betont die Notwendigkeit systematischer wissenschaftlicher Tätigkeit auf allen Gebieten.</p></p>
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<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
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<p><strong>1</strong> Pinsger M et al.: Nutzen einer Add-On-Therapie mit dem synthetischen Cannabinomimetikum Nabilone bei Patienten mit chronischen Schmerzzuständen – eine randomisierte kontrollierte Studie. Wien Klin Wochenschr 2006; 118(11-12): 327-35 <strong>2</strong> Jetly R et al.: The efficacy of nabilone, a synthetic cannabinoids in the treatment of PTSD-associated nightmares: a preliminary randomized, double-blind, placebo-controlled cross-over design study. Psychoneuroendocrinology 2015; 51: 585-8 <strong>3</strong> National Academies of Sciences, Engineering, and Medicine: 2017. The health effects of cannabis and cannabinoids: the current state of evidence and recommendations for research. Washington, DC: The National Academies Press. doi: 10.17226/24625 <strong>4</strong> David Kendall and Stephen Alexander: Cannabinoid Pharmacology, Volume 80, 1. Ausgabe in: Advances in Pharmacology 2017, Academic Press, Cambridge MA</p>
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