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Wenig bekannte Folgen sexuellen Missbrauchs

Missbrauch und Darm

<p class="article-intro">Sogenannte funktionelle intestinale Beschwerden haben nicht selten einen psychischen Hintergrund, der mit einem sexuellen Missbrauch in der Vergangenheit assoziiert sein kann. Dies sollte in Diagnostik und Therapie mehr Berücksichtigung finden.</p> <p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>Der sexuelle Missbrauch ist h&auml;ufiger als geahnt und betrifft vor allem Frauen.</li> <li>Bei &bdquo;funktionellen&ldquo; intestinalen Erkrankungen sollte stets auch an Missbrauch in der Vergangenheit gedacht werden.</li> <li>Diese Zusammenh&auml;nge gebieten &auml;u&szlig;erste Zur&uuml;ckhaltung in Bezug auf Operationen.</li> <li>Insbesondere die Enddarmobstipation (ODS) erfordert eine entsprechende psychische Exploration und eine konsequente Physiotherapie.</li> </ul> </div> <p>Den Organen des Beckenbodens gemeinsam sind die St&uuml;tze des Beckenbodens und dessen Innervation. Handfeste pathomorphologische Ver&auml;nderungen wie Tumoren und Prolaps sind zweifelsfrei Dom&auml;ne operativer Interventionen von Urologie, Gyn&auml;kologie und Koloproktologie (als Spezialgebiet der Viszeralchirurgie). Wesentliche proktologische Beschwerden wie Enddarmentleerungsst&ouml;rung (obstruktives Def&auml;kationssyndrom, ODS) und anorektale Schmerzen ohne fassbares Substrat werden im &auml;rztlichen Jargon meistens den sogenannten funktionellen Erkrankungen zugeordnet. Wiewohl diese einer eingehenden Diagnostik bed&uuml;rften, verleiten sie doch allzu oft zu voreiligen chirurgischen Reaktionen, wenn man zum Beispiel in H&auml;morrhoiden irrigerweise die Ursache f&uuml;r ein anales Schmerzsyndrom sieht. Dementsprechend entt&auml;uschend kann das Ergebnis dieser unn&ouml;tigen Operationen sein.</p> <p>Gerade Symptome im Bereich des Intestinaltrakts k&ouml;nnen Ausdruck von bewussten oder unbewussten psychischen Problemen sein, die in nicht geringem Ma&szlig;e auf ein Trauma in Kindheit oder Jugend zur&uuml;ckgehen &ndash; oft in Form eines sexuellen Missbrauchs. Der Zusammenhang zwischen Psyche, ZNS und Darm wurde mit dem Konzept der &bdquo;brain-gut axis&ldquo; schon vor 40 Jahren postuliert.<sup>1, 2</sup> J&uuml;ngere Untersuchungen des Gehirns mittels funktioneller MRT best&auml;tigen bildgebend den Einfluss von Symptomen des RDS (Reizdarmsyndrom) auf bestimmte zerebrale Regionen.<sup>3</sup></p> <p>&nbsp;</p> <h2>Sexueller Missbrauch &ndash; Inzidenz und Folgen</h2> <p>Der sexuelle Missbrauch macht 11 % der vielf&auml;ltigen Formen von Misshandlung aus.<sup>4</sup> Er betrifft unter den betroffenen Kindern und Jugendlichen 73 % zwischen dem 5. und 14. Lebensjahr.<sup>5</sup> Die Opfer sind zumeist weiblich, im Verh&auml;ltnis 6:1.<sup>5</sup> Die &bdquo;T&auml;ter&ldquo; bei sexuellem Missbrauch gegen&uuml;ber Frauen sind in 98 % der F&auml;lle M&auml;nner,<sup>6</sup> von denen 75 % im Kreis von Familie und Bekannten zu finden sind.<sup>7</sup> Die Inzidenz des sexuellen Missbrauchs in &Ouml;sterreich betr&auml;gt 13 % .<sup>8</sup> Der fr&uuml;he sexuelle Missbrauch unterliegt oft dem &bdquo;Sleeper-Effekt&ldquo;<sup>5</sup> &ndash; das Trauma der Jugend wird vergessen, verdr&auml;ngt, daher von den einst Betroffenen nicht mit sp&auml;ter auftretenden intestinalen Beschwerden in Verbindung gebracht. Auch f&uuml;r die behandelnden &Auml;rzte ist diese Assoziation nur sporadisch eine naheliegende.</p> <p>Die langfristigen Auswirkungen des Missbrauchs in der Vergangenheit reichen von psychischen Krankheiten &uuml;ber verschiedenste Schmerzmanifestationen bis zu chronischen intestinalen Beschwerden (Tab. 1).</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Urologik_Uro_1704_Weblinks_s34_1.jpg" alt="" width="992" height="817" /></p> <p>Bei Patientinnen mit intestinalen Beschwerden, meist RDS, sind nach sexuellem Missbrauch rein funktionelle Probleme (53 % ) signifikant h&auml;ufiger als manifeste organische Erkrankungen des Verdauungstraktes (37 % ).<sup>9</sup> Allerdings bleibt die Ursache meist lange Zeit unentdeckt &ndash; einerseits, weil zu wenig danach gefragt wird,<sup>10</sup> andererseits, weil die Betroffenen selbst sie beharrlich verheimlichen. Hieraus resultieren zahlreiche Konsultationen (&bdquo;doctor shopping&ldquo;), wiederholte Untersuchungen, insbesondere Endoskopien, und unn&ouml;tige operative Eingriffe.<sup>9</sup></p> <h2>Enddarmobstipation</h2> <p>F&uuml;r die Enddarmobstipation, in der Literatur nunmehr eingeb&uuml;rgert als ODS, existieren zahlreiche Synonyma: Neben Beckenbodendyssynergie, Animus, &bdquo;pelvic floor outlet syndrome&ldquo; spiegelt der Begriff der paradoxen Puborectaliskontraktion den urs&auml;chlichen Mechanismus am besten wider.</p> <p>Vom ODS sind in gro&szlig;er Mehrzahl Frauen betroffen, einerseits wegen der anatomischen Gegebenheit des d&uuml;nnen Septum rektovaginale, andererseits wegen der hohen Inzidenz einer Anamnese von sexuellem Missbrauch. Die Def&auml;kation wird durch die gleichzeitige, somit paradoxe Kontraktion des Musculus puborectalis behindert; der wiederholte Druckanstieg im Rektum weitet dessen Vorderwand allm&auml;hlich zu einer Rektozele aus (Abb. 1). Schlie&szlig;lich folgt die Intussuszeption des mittleren in das untere Rektumdrittel (Abb. 2). Die in den sensiblen Analkanal ragende Rektummukosa wird naturgem&auml;&szlig; als Stuhl interpretiert, den man verzweifelt herauszupressen versucht. Das Gef&uuml;hl der analen Blockierung, der Eindruck unvollst&auml;ndiger Entleerung und frustrane Pressversuche werden zusammengefasst als &bdquo;Trias des AMP&ldquo; (anteriorer Mukosa-Prolaps, der eigentlich nur ein Deszensus der Mukosa ist). Diese nur w&auml;hrend der Def&auml;kation auftretenden morphologischen Ver&auml;nderungen werden mittels Def&auml;kografie objektiviert (Abb. 3).</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Urologik_Uro_1704_Weblinks_s34_2.jpg" alt="" width="2148" height="767" /></p> <p>So nahe es auch l&auml;ge, diese &bdquo;Verkrampfung&ldquo; des Beckenbodens mit einem fr&uuml;heren Missbrauch zu assoziieren, wird kaum eine Sexualanamnese erhoben. Geschieht dies doch, dann signifikant h&auml;ufiger bei weiblichen Patienten als bei m&auml;nnlichen, und in erster Linie sind es &Auml;rztinnen, die das Thema ansprechen.<sup>10</sup> Begr&uuml;ndet wird der h&auml;ufige Verzicht der &Auml;rzte auf Fragen nach sexuellem Missbrauch mit zu wenigen Kenntnissen oder damit, dass dieser keine Bedeutung habe. Zu wenig Zeit w&auml;hrend der Konsultation zu haben spielt dagegen keine Rolle.<sup>10</sup></p> <p>Wenn es sich bei den geschilderten Ph&auml;nomenen des ODS m&ouml;glicherweise um die physische Reaktion auf ein weit zur&uuml;ckliegendes Trauma der Psyche handelt, ist zu bedenken, dass eine operative Behebung von Rektozele und Intussuszeption als erster Schritt eine inad&auml;quate, weil mechanistische Ann&auml;herung an das Problem darstellt, weit entfernt von einer kausalen Therapie. Vielmehr sollten solche Patientinnen zuallererst einer konservativen Therapie zugef&uuml;hrt werden. Erfolg ist oft schon gegeben mit der Erkl&auml;rung der Situation anhand von Skizzen und der Erleichterung des Stuhlgangs mittels milder laxierender Suppositorien oder Klistieren.</p> <p>Sp&auml;testens bei hartn&auml;ckig persistierender Enddarmobstipation mit hohem Leidensdruck ist die Exploration bez&uuml;glich eines sexuellen Missbrauchs angezeigt. Der n&auml;chste therapeutische Schritt ist die Beckenbodenreedukation mittels Biofeedback, um die gezielte Erschlaffung der quer gestreiften Sphinktermuskulatur zu erlernen.<sup>11</sup> Zuk&uuml;nftige Behandlungskonzepte bei ODS und anorektalen Schmerzsyndromen sollten &ndash; &auml;hnlich der Therapie des RDS &ndash; auch eine Psychotherapie integrieren, meist mit medikament&ouml;ser Unterst&uuml;tzung (Antidepressiva etc.).<sup>3</sup></p> <p>Operationen k&ouml;nnen, wenn &uuml;berhaupt, bestenfalls zur Erg&auml;nzung der konservativen Therapie angeboten werden &ndash; mit einer pr&auml;operativen Aufkl&auml;rung, die tunlichst keine vollmundige Garantie f&uuml;r eine Besserung gibt. Das chirurgische Spektrum reicht von der simplen Exzision der lockeren ventralen Rektumschleimhaut (anteriores Mukosa-Stripping) bis zur transabdominellen Rektopexie. Kritisch zu sehen ist die nicht ohne Nonchalance propagierte Klammernahtmethode STARR (&bdquo;Stapled TransAnal Rectal Resection&ldquo;), welche aufgrund der resultierenden Verengung des Rektums und der fallweisen, nicht vorhersehbaren Beeintr&auml;chtigung der Sphinkterfunktion eine anale Inkontinenz wie auch andere Komplikationen nach sich ziehen kann.<sup>12</sup></p> <p>Unmissverst&auml;ndliches Anliegen dieser Arbeit ist es, die w&uuml;nschenswerte Sensibilit&auml;t f&uuml;r den Zusammenhang zwischen einem m&ouml;glichen sexuellen Missbrauch in der Vergangenheit und den aktuellen Symptomen von Patientinnen und Patienten zu erwecken. Sobald der Gedanke an einen Missbrauch aufkommt, sollte mit entsprechender Einf&uuml;hlsamkeit nach diesem gefragt werden, um Betroffene gegebenenfalls einer professionellen Physio- und Psychotherapie zuzuf&uuml;hren. Auch sollten solche &Uuml;berlegungen vor der Indikationsstellung f&uuml;r Operationen bei &bdquo;funktionellen&ldquo; Problemen im kleinen Becken ber&uuml;cksichtigt werden.</p></p> <p class="article-footer"> <a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a> <div class="collapse" id="collapseLiteratur"> <p><strong>1</strong> Moser G: Funktionelle gastrointestinale St&ouml;rungen. Wien Med Wochenschr 2006; 156: 435-40 <strong>2</strong> Engel GL: The need for a new medical model: a challenge for biomedicine. Science 1977; 196: 129-36 <strong>3</strong> Drossman DA: Abuse, trauma and GI illness: Is there a link? Am J Gastroenterol 2011; 106: 14-25 <strong>4</strong> Emery RE, Laumann-Billings L: An overview of the nature, causes, and consequences of abusive family relationships. Am Psychol 1998; 53: 121-35 <strong>5</strong> Egle UT et al.: Sexueller Missbrauch, Misshandlung, Vernachl&auml;ssigung. Stuttgart: Schattauer, 2016 <strong>6</strong> Fergusson DM, Mullen PE: Childhood sexual abuse: an evidence based perspective. Thousand Oaks: Sage Publications Inc., 1999 <strong>7</strong> Bange D: Die dunkle Seite der Kindheit. Sexueller Mi&szlig;brauch an M&auml;dchen und Jungen. Ausma&szlig; &ndash; Hintergr&uuml;nde &ndash; Folgen. K&ouml;ln: Volksblatt Verlag, 1992 <strong>8</strong> Statistik Austria 2014 <strong>9</strong> Drossman DA: Sexual and physical abuse and gastrointestinal illness. Scand J Gastroenterol Suppl 1995; 208: 90-6 <strong>10</strong> Nicolai MPJ et al.: Pelvic floor complaints in gastroenterology practice: results of a survey in the Netherlands. Frontline Gastroenterol 2012; 3: 166-71 <strong>11</strong> Rao SSC et al.: Randomized controlled trial of biofeedback, sham feedback, and standard therapy for dyssynergic defecation. Clin Gastroenterol Hepatol 2007; 5: 331-8 <strong>12</strong> Podzemny V et al.: Management of obstructed defecation. World J Gastroenterol 2015; 28: 1053-60</p> </div> </p>
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