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Von der versehentlichen Überdosierung bis zur krankhaften „vorgetäuschten Störung“

Differenzialdiagnose der Hyperthyreosis factitia

<p class="article-intro">Als Hyperthyreosis factitia bezeichnet man eine hyperthyreote Stoffwechsellage, die durch eine versehentliche oder seitens des Patienten bewusste Überdosierung von Schilddrüsenhormonen verursacht ist. Auch daran muss man bei einer therapieresistenten Schilddrüsenüberfunktion unklarer Genese denken.</p> <p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>Die Hyperthyreosis factitia ist eine durch unbeabsichtigte oder beabsichtigte &Uuml;berdosierung von Thyroxin verursachte hyperthyreote Stoffwechsellage.</li> <li>&bdquo;Vorget&auml;uschte St&ouml;rungen&ldquo; (M&uuml;nchhausen-Syndrom) sind &auml;u&szlig;erst selten und stellen dementsprechend eine diagnostische Herausforderung dar.</li> <li>Durch Bestimmung des Thyreoglobulins im Serum kann ein bestehender Verdacht sofort erh&auml;rtet werden; sehr niedrige Level weisen auf eine exogene Hormonzufuhr hin.</li> </ul> </div> <p>F&uuml;r die zu hoch dosierte Schilddr&uuml;senhormoneinnahme gibt es ganz unterschiedliche Gr&uuml;nde. Der Nachweis einer solchen artifiziellen Hyperthyreose ist wichtig, aber oft sehr schwierig, vor allem wenn in gro&szlig;en Schilddr&uuml;senambulanzen die Patienten immer wieder von anderen &Auml;rzten betreut werden und die zu Beginn ge&auml;u&szlig;erte Verdachtsdiagnose in den Folgebefunden nicht mehr erw&auml;hnt wird.</p> <h2>Gr&uuml;nde f&uuml;r &Uuml;berdosierung von Schilddr&uuml;senhormonen</h2> <p>Tabelle 1 zeigt eine &Uuml;bersicht der nachfolgend diskutierten Ursachen f&uuml;r eine Mehreinnahme von Thyroxin sowie Therapieoptionen.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Jatros_Diabetes_1702_Weblinks_s45_tab1.jpg" alt="" width="1419" height="1343" /></p> <p><br /> <strong>Versehentliche Einnahme einer zu hohen Dosis</strong><br /> Wenn das Schilddr&uuml;senhormon z.B. jeden Tag statt jeden 2. Tag oder eine ganze Tablette statt einer halben eingenommen wird; meist bei &auml;lteren Patienten. Pillenboxen mit Wocheneinteilung, die von einer Betreuungsperson vorbereitet werden, k&ouml;nnen hier Abhilfe schaffen. Komplizierte Dosierungsrichtlinien sollten daher tunlichst vermieden werden. <br /><br /><strong>Ausfolgung eines zu hoch dosierten Pr&auml;parates</strong><br /> Dies kann entweder auf einem Irrtum des Apothekenpersonals beruhen oder auf einer falsch angegebenen Dosierung auf dem Rezept, beides kommt jedoch selten vor. In diesen F&auml;llen ist die Aufkl&auml;rung der Umst&auml;nde einfach und es gen&uuml;gt eine sofortige Dosiskorrektur. Die Patienten sind dankbar f&uuml;r die Information und die Umstellung auf die richtige Therapie und sollten nicht beunruhigt werden. <br /><br /><strong>Selbstmedikation wegen erhoffter Gewichtsabnahme</strong><br /> In der Boulevardpresse und im Internet findet man immer wieder Hinweise darauf, dass man mithilfe von Schilddr&uuml;senhormon Gewicht abnehmen k&ouml;nnte. In den Vereinigten Staaten bekommen mehr als 10 % der postmenopausalen Frauen Schilddr&uuml;senhormontabletten, von diesen sind ca. 20 % &uuml;bersubstituiert.<sup>2</sup> Viele Patienten nehmen mehr Thyroxin als vom Arzt empfohlen; teils, um nicht an Gewicht zuzunehmen, anderenteils aus Gr&uuml;nden des allgemeinen Wohlbefindens.<br /> Hier ist es meist ausreichend, die Patienten aufzukl&auml;ren, dass eine l&auml;ngere Einnahme einer zu hohen Schilddr&uuml;senhormonmenge mit erheblichen Risiken (Herzrhythmusst&ouml;rungen, Osteoporose) verbunden ist. Die Aufkl&auml;rung f&uuml;hrt aber nicht immer zum Erfolg, vor allem bei &bdquo;Wundermitteln&ldquo; zur Gewichtsreduktion von &bdquo;Heilern&ldquo; oder aus dem Internet, f&uuml;r die oft viel Geld ausgegeben wurde. Sie enthalten Thyroxin, meist aber Trijodthyronin in gef&auml;hrlich hohen Dosen, sonst w&uuml;rde das Gewicht nicht reduziert.<br /><br /></p> <h2>Essst&ouml;rungen (Anorexia nervosa)</h2> <p>Auffallend und hinweisend ist die k&ouml;rperliche Konstitution der Patienten (bei Anorexia nervosa BMI &lt;17,5; ein BMI &lt;18,5 bedeutet bereits Untergewicht). Thyroxin wird von den Patienten meist als unterst&uuml;tzende Ma&szlig;nahme zur Gewichtskontrolle verwendet. Auch hier muss man auf die gesundheitlichen Risiken hinweisen. Diese Patienten sind aber schwieriger und meist weniger kooperativ.<br /><br /> <strong>Vort&auml;uschung einer Erkrankung zu einem bestimmten Zweck</strong> Um z.B. zu einer Fr&uuml;hrente zu gelangen, bei Arbeitsunwillen oder um private Probleme zu l&ouml;sen, wird manchmal eine Erkrankung vorget&auml;uscht. Mit der Vort&auml;uschung einer Hyperthyreose wird also ein bestimmter Zweck verfolgt; es handelt sich um keine psychische St&ouml;rung. Hier gen&uuml;gt es meist, nachdem man dem Patienten die zu hoch dosierte Einnahme von Thyroxin bewiesen hat, ihn &uuml;ber gesundheitliche Risiken und eventuell sogar strafrechtliche Konsequenzen aufzukl&auml;ren.<br /><br /> <strong>Vorget&auml;uschte Erkrankung infolge einer psychischen St&ouml;rung</strong><br /> Von einer artifiziellen St&ouml;rung spricht man bei einer absichtlichen Erzeugung oder Vort&auml;uschung von k&ouml;rperlichen oder psychischen Symptomen oder Behinderungen. Diese St&ouml;rung wurde 1951 vom englischen Psychiater Sir Richard Asher als M&uuml;nchhausen-Syndrom bezeichnet.<sup>1</sup> Der Gewinn f&uuml;r den Betreffenden ist die &auml;rztliche Zuwendung.<br /><br /> <strong>M&uuml;nchhausen-Syndrom und Schilddr&uuml;se</strong> Selbstsch&auml;digendes Verhalten ist seit dem Altertum bekannt. Es gibt Menschen, die sich gesundheitlich selbst sch&auml;digen, indem sie Krankheitszeichen vort&auml;uschen, verst&auml;rken oder k&uuml;nstlich hervorrufen. Damit wollen sie eine Patientenrolle erzwingen und sich in Krankenh&auml;usern behandeln lassen, selbst um den Preis zahlreicher medizinischer Eingriffe einschlie&szlig;lich Operationen. So etwas nannte man fr&uuml;her M&uuml;nchhausen-Syndrom, heute eine artifizielle St&ouml;rung, selbst manipulierte Krankheit oder vorget&auml;uschte St&ouml;rung. Die Patienten sind meist sehr gut &uuml;ber das vorget&auml;uschte Krankheitsbild informiert und schaffen es oft sehr lange, die behandelnden &Auml;rzte zu t&auml;uschen.<br /><br /> Neben zahlreichen anderen M&ouml;glichkeiten ist die Einnahme einer zu hohen Dosis an Schilddr&uuml;senhormon eine f&uuml;r die Patienten einfache M&ouml;glichkeit, eine Hyperthyreose vorzut&auml;uschen. Die &Uuml;berdosierung f&uuml;hrt zu gef&auml;hrlichen kardiovaskul&auml;ren Symptomen und auch die verordnete thyreostatische Therapie (die meist aber nicht eingenommen wird) ist sehr nebenwirkungsreich, manchmal endet es sogar mit einer Thyreoidektomie.<br /> Die Motivation ist unklar, wahrscheinlich ist es das Ziel, eine Krankenrolle einzunehmen. Meist bestehen auch deutliche Pers&ouml;nlichkeitsst&ouml;rungen. Wenn die M&ouml;glichkeit einer Psychotherapie erw&auml;hnt wird, wechseln die Patienten in der Regel sofort den Arzt oder suchen eine andere Ambulanz bzw. ein anderes Krankenhaus auf. Patienten mit selbstsch&auml;digendem Verhalten sind psychisch krank, auch wenn sie das selbst meist nicht so sehen. Die Motivation liegt allein in der &Uuml;bernahme einer Krankenrolle. Man will krank sein und ist daf&uuml;r bereit, alles zu ertragen, bis an die Grenze, die manchmal weit &uuml;ber das Verstehbare hinausgeht.</p> <h2>Nachweis einer Hyperthyreosis factitia</h2> <p><strong>Thyreoglobulinbestimmung</strong><br /> Ein wesentlicher Punkt ist die Bestimmung des Thyreoglobulins im Serum.<sup>4</sup> Dieses wird bei der vermehrten Produktion von Thyroxin in den Schilddr&uuml;senzellen in h&ouml;herer Konzentration ins Blut abgegeben. Bei allen Formen einer Hyperthyreose (z.B. Autoimmunhyperthyreose, funktionelle Autonomie) ist das Thyreoglobulin erh&ouml;ht. Bei exogener Zufuhr wird die Thyroxinproduktion stark vermindert. Das Thyreoglobulin ist dann sehr niedrig. Das ist bei sonst hyperthyreoter Stoffwechsellage der Beweis f&uuml;r eine Hyperthyreosis factitia. Vor allem auch, wenn der funktionsmorphologische Befund normal ist. Im vorgestellten Fall wurde das Thyreoglobulin nur ganz am Schluss einmal bestimmt, es betrug 5,1ng/ml. Der Operationstermin war zu diesem Zeitpunkt bereits fixiert und es wurde leider nicht beachtet.<br /><br /> <strong>Recherchen im Einzugsgebiet des Patienten</strong><br /> Ein Nachfragen in Apotheken und bei anderen &Auml;rzten bringt sehr oft einen Hinweis darauf, ob der Patient gro&szlig;e Mengen an Thyroxin zur Verf&uuml;gung hat.<br /><br /> <strong>&Uuml;berraschende Blutabnahmen</strong><br /> Spontane Blutabnahmen au&szlig;erhalb der geplanten Kontrolltermine durch den Hausarzt zeigen oft eine Hyperthyreose, w&auml;hrend bei vereinbarten Kontrollterminen die Werte in Ordnung erscheinen. (Die Normalisierung des fT4 w&auml;hrend des station&auml;ren Aufenthaltes der oben vorgestellten Patientin war ein weiterer Hinweis. Dieses Absinken wurde aber als Erfolg der intraven&ouml;sen Thiamazoltherapie interpretiert.)<br /><br /> <strong>Ein ausf&uuml;hrliches Gespr&auml;ch</strong><br /> Hinweise auf m&ouml;gliche Gr&uuml;nde f&uuml;r die vermehrte Thyroxineinnahme (z.B. Gewicht, Vort&auml;uschen einer Erkrankung, um ein Ziel zu erreichen) oder auf eine psychische St&ouml;rung im Sinne eines M&uuml;nchhausen- Syndroms erlangt man oft durch ein eingehendes Gespr&auml;ch.</p> <h2>Res&uuml;mee</h2> <p>Um eine Hyperthyreosis factitia nachzuweisen, gibt es die angef&uuml;hrten M&ouml;glichkeiten. Die Diagnose sollte fr&uuml;hzeitig erfolgen. Die vorgestellte Patientin ist ein halbes Jahr unn&ouml;tig thyreostatisch behandelt worden, dann wurde sogar die eigentlich gesunde Schilddr&uuml;se entfernt &ndash; es besteht nun noch dazu eine postoperative Stimmbandl&auml;hmung. Auch nach der Operation ist sie jetzt immer noch fallweise &uuml;bersubstituiert. Eventuell spielt da zus&auml;tzlich eine latente Anorexia nervosa eine Rolle. Die ganze Problematik begann mit der Substitution einer latenten Hypothyreose durch den Frauenarzt w&auml;hrend einer Schwangerschaft. So wurde die Patientin mit dem Umgang mit Thyroxin vertraut. Dann erst entwickelte sich das M&uuml;nchhausen-Syndrom mit allen angef&uuml;hrten Konsequenzen.<br /> Solche Patienten sind psychisch krank, haben keine Krankheitseinsicht und lehnen daher eine Psychotherapie meist ab. Trotzdem kann eine fr&uuml;hzeitige Diagnose nicht nur Kosten f&uuml;r die Allgemeinheit, sondern vor allem auch erhebliche Gefahren f&uuml;r den Patienten minimieren. Die Hyperthyreosis factitia im Zusammenhang mit einer &bdquo;vorget&auml;uschten St&ouml;rung&ldquo; (M&uuml;nchhausen-Syndrom) ist &auml;u&szlig;erst selten und macht dementsprechend diagnostische Probleme. Daher der Hinweis auf die Thyreoglobulinbestimmung, die einfach ist und den Verdacht sofort erh&auml;rtet.</p></p> <p class="article-footer"> <a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a> <div class="collapse" id="collapseLiteratur"> <p><strong>1</strong> Amerikanische Psychiatrische Vereinigung (APA): Diagnostisches und statistisches Manual psychischer St&ouml;rungen. DSM-5. G&ouml;ttingen: Hogrefe Verlag, 2015. S. 443-6 <strong>2</strong> Abe E et al: Bone loss in thyroid disease: role of low TSH and high thyroid hormone. Ann N Y Acad Sci 2007; 1116: 383-9 <strong>3</strong> Faust V: Psychosoziale Gesundheit; http://www. psychosoziale-gesundheit.net, letzter Zugriff: 6. 4. 2017 <strong>4</strong> Schumm-Draeger PM et al: Therapie der Hyperthyreose. Dtsch Med Wochenschr 2003; 128: 496-9</p> </div> </p>
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