©
Chinnapong
iStockphoto
Frühgeborene an der Grenze der Lebensfähigkeit
Jatros
Autor:
Prof. Michael Schroth
Chefarzt Neonatologie und Pädiatrische Intensivmedizin<br>Ärztlicher Sprecher Cnopf’sche Kinderklinik<br>Nürnberg<br>E-Mail: michael.schroth@diakonieneuendettelsau.de
30
Min. Lesezeit
25.05.2017
Weiterempfehlen
<p class="article-intro">„Jedes Kind hat einen Anspruch auf eine Behandlung, die seinen individuellen Bedürfnissen angemessen ist, unabhängig von seinen Lebens- und Überlebensaussichten.“ Dieses Zitat aus der UN-Kinderrechtskonvention stellt gerade in der reellen Umsetzung bei extrem kleinen Frühgeborenen eine große Herausforderung für jedes Perinatalzentrum dar.</p>
<p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> Wir empfehlen an einem Perinatalzentrum im multidisziplinären Umgang mit extrem Frühgeborenen an der Grenze der Lebensfähigkeit folgendes standardisierte Vorgehen: <ul> <li>Klärung des medizinischen Sachverhaltes</li> <li>ethische Abwägung</li> <li>Prüfung des Lebenskontextes des Kindes</li> <li>Konsensusfindung und Entscheidung im Team unter Berücksichtigung des Elternwillens</li> <li>Zustimmung der ärztlichen Leitungen und exakte Dokumentation</li> <li>Durchführung eines Elterngespräches unter repetitiver Überprüfung und Reevaluation aller Entscheidungen</li> </ul> </div> <h2>Rechtliche Grundlagen</h2> <p>Probleme bereiten alltägliche Konflikte in der Abwägung unterschiedlicher Rechts­güter: Zum einen besteht eine ärztliche Verpflichtung zur Lebenserhaltung, wenn auch nicht unter allen Umständen. Zum anderen kann ein Behandlungsabbruch auch gegen den Willen der Patienten oder deren Sorgeberechtigte erfolgen. Somit steht Lebenserhalt durch intensivmedizinische Maßnahmen zur Erzielung eines mittel- bis langfristigen Überlebens im Gegensatz zur Inkaufnahme lebenslanger körperlicher und geistiger Beeinträchtigungen. Konfliktfrei ist hierbei immer das Recht auf Grundversorgung (z.B. Linderung von Leiden und Schmerzen, die bestmögliche Pflege, menschliche Zuwendung). Der juristische Rahmen ist nicht immer klar nachvollziehbar und konfliktfrei definiert. Kinder benötigen zur Vertretung ihrer Ansprüche Patientenvertreter, in der Regel die Eltern. Eltern wiederum haben das Recht, einer ärztlich indizierten Behandlung des Kindes zuzustimmen oder sie abzulehnen, sind aber hierbei zwingend an das Kindeswohl gebunden. Ärzte schlussendlich haben weder das Recht noch die Pflicht zu eigenmächtiger Heilbehandlung. In Notfallsituationen ist eine ärztliche Stabilisierung gestattet, bis eine klare Abstimmung zusammen mit den Eltern hinsichtlich des Therapieziels erfolgen kann. Der leitende Gesichtspunkt muss aber in allen Fällen das Wohl des Kindes sein.</p> <h2>Ethische Fragestellungen</h2> <p>Diese ergeben sich immer dann, wenn es eben an „die Grenze“ geht, zum Beispiel bei Aussichtslosigkeit oder Beginn eines Sterbeprozesses oder bei der Sterbebegleitung für Eltern und Kind. In allen Fällen ist immer der Faktor Zeit von entscheidender Bedeutung. In der Regel sollte keine Therapie abgebrochen werden, ohne dass ein adäquates „Abschiednehmen“ möglich war. Ziel von Arzt-Eltern-Gesprächen ist es im Wesentlichen, Entscheidungshilfen, gestützt auf Werte, Literatur und persönliche Erfahrungen, zu vermitteln. Es entsteht somit ein permanenter Dialog, in dem von ärztlicher Seite die Sachkompetenz und von den Eltern die Wertekompetenz vertreten werden. Grundsatz sollte stets sein, dass Eltern die Last der Entscheidung nicht alleine tragen.</p> <h2>Mortalität, Morbidität und Prognose</h2> <p>Hinreichend bekannt und in vielen Studien dargestellt ist der Zusammenhang zwischen prognostischen Faktoren wie Gestationsalter sowie Gewicht bei Geburt, Geschlecht, Lungenreife, Qualität des Perinatalzentrums und dem (neurologischen) Outcome extrem unreifer Frühgeborener. An der Grenze der Lebensfähigkeit sind definitiv viele Faktoren maßgeblich verantwortlich für die Prognose des Überlebens ohne schwere entwicklungsneurologische Beeinträchtigung. Uneinheitlich und zum Teil wenig wegweisend sind zumeist klinische Faktoren wie Nabelarterien-pH bei Geburt, APGAR-Werte oder die empfundene postnatale Vitalität des Kindes und das Ansprechen auf Reanimationsmaßnahmen. All diese Faktoren entscheiden nicht über die Proaktivität neonatologischen Handelns, fließen jedoch in die Entscheidungsfindung und in das gemeinsame Gespräch mit den Eltern ein. Daten des German Neonatal Network (GNN) geben Rückschlüsse auf potenziell vermeidbare Komplikationen der Frühgeburtlichkeit (Sepsis, NEC, Lungenblutung). Diese Faktoren werden determiniert als wichtige Faktoren, die mit Mortalität bei Frühgeborenen (GNN-2010-Kohorte) assoziiert sind. Zukünftige Studien sollten daher auf Prävention und Therapieoptimierung für diese Komplikationen abzielen. Konsens besteht, dass neurologische Schädigungen die bedeutsamste Langzeitmorbidität darstellen.</p> <h2>Empfehlungen</h2> <p>Allgemeingültige Empfehlungen lassen sich nur schwer formulieren. Generell besteht das Postulat, die Versorgung dieser Hochrisikokinder immer in hochspezialisierten Perinatalzentren stattfinden zu lassen. Die Notwendigkeit der fetalen Lungenreifebehandlung, auch vor der 24. Schwangerschaftswoche, ist unumstritten, gerade dann, wenn potenziell nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Versorgung des Kindes erfolgreich verlaufen kann. Gleiches gilt für die Durchführung einer Tokolyse. In Abhängigkeit des Gestationsalters bei Geburt (22 bis 24 Schwangerschaftswochen) ist leitlinienkonform die Versorgung von Kindern geregelt bzw. empfohlen.</p> <div id="Fazit"> <h2>Fazit</h2> <p>Klinisch relevant ist der Weg zur eigentlichen Entscheidungsfindung:<br />Diese kann nur durch Aufklärung und Beratung durch alle Berufsgruppen (Ärzte, Pflege, Sozialteam) erfolgen unter der Berücksichtigung dessen, dass sich Eltern in einer enormen Belastungssituation befinden. Therapiezieländerungen sind regelmäßig im Team zu prüfen und verpflichten zu einer kontinuierlichen Reevaluation. Eine Sterbebegleitung setzt eine adäquate palliative Betreuung in einem multidisziplinären Kontext voraus, was in der Regel nur an einem Perinatalzentrum der höchsten Versorgungsstufe zu gewährleisten ist.<br />Die aktuelle AWMF-Leitlinie 024/019 stellt hier ein vorbildliches und hervorragendes Gerüst zum Umgang mit der Problematik „Frühgeborene an der Grenze der Lebensfähigkeit“ dar.</p> </div> <p> </p> <p><span class="link-color"><a class="article-link" href="../fachthemen/8049" data-locked="0">zurück zum Themenschwerpunkt zur OEGGG Jahrestagung</a></span></p> <p> </p></p>
<p class="article-footer">
<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
<div class="collapse" id="collapseLiteratur">
<p><strong>1</strong> UN-Kinderrechtskonvention. Übereinkommen über die Rechte des Kindes BGBl 1992; II: 121-44 <strong>2</strong> AWMF-Leitlinie 024-019 „Frühgeborene an der Grenze der Lebensfähigkeit“ – gemeinsame Empfehlung der DGGG, DGKJ, GNPI et al <strong>3</strong> Bundesärztekammer, Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung. Deutsches Ärzteblatt 2011; 108: A 346-A8 <strong>4</strong> Kletecka-Pulker M: Ethik und Recht der Reanimation: Wann muss man anfangen, wann soll man aufhören? J Kardiol 2014; 21 (Suppl. A): 5-8 <strong>5</strong> Leuthner SR: Borderline viability: controversies in caring for the extremely premature infant. Clin Perinatol 2014; 41: 799-814 <strong>6</strong> Lipp V, Brauer D: Behandlungsbegrenzung und „futility“ aus rechtlicher Sicht. Z Palliativmed 2013; 14: 121-6 <strong>7</strong> Truog RD: Is it always wrong to perform futile CPR? N Engl J Med 2010; 362: 477-9 <strong>8</strong> Kaempf JW et al: Counseling pregnant women who may deliver extremely premature infants: medical care guidelines, family choices, and neonatal outcomes. Pediatrics 2009; 123: 1509-15 <strong>9</strong> Österreichische Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde. Erstversorgung von Frühgeborenen an der Grenze der Lebensfähigkeit. Leitlinie der Arbeitsgruppe Neonatologie und pädiatrische Intensivmedizin und der Arbeitsgruppe Ethik. Monatsschr Kinderheilk 2005; 153: 711-5 <strong>10</strong> Trotter A, Pohlandt F: Aktuelle Ergebnisqualität der Versorgung von Frühgeborenen <1500 g Geburtsgewicht als Grundlage für eine Regionalisierung der Risikogeburten. Z Geburtsh Neonatol 2010; 214: 55-61 <strong>11</strong> Tyson JE et al for the National Institute of Child Health and Human Development Neonatal Research Network: Intensive care for extreme prematurity – moving beyond gestational age. N Engl J Med 2008; 358: 1672-81 <strong>12</strong> Manley BJ et al: Clinical assessment of extremely premature infants in the delivery room is a poor predictor of survival. Pediatrics 2010; 125: e559-64 <strong>13</strong> Stichtenoth G et al: Major contributors to hospital mortality in very-low-birth-weight infants: data of the birth year 2010 cohort of the German Neonatal Network. Klin Padiatr 2012; 224: 276-81 <strong>14</strong> Smith PB et al: Approach to infants born at 22 to 24 weeks’ gestation: relationship to outcomes of more-mature infants. Pediatrics 2012; 129: e1508-16 <strong>15</strong> Reeves SA et al: Magnesium for fetal neuroprotection. Am J Obstet Gynecol 2011; 204: 1-4</p>
</div>
</p>
Das könnte Sie auch interessieren:
ADC Sequencing in Breast Cancer: Treatment Sequence & Attrition Rates
Jose Sandoval, MD, PhD, MPH, Geneva University Hospitals and Curie Institute, presents what he considers to be the most important data from SABCS 2023 on antibody-drug conjugates in ...
Digitale Transformation als «höchste Priorität»
Bei der «Nationalen Konferenz Gesundheit 2030» sprachen Expert:innen über Must-Haves bei der Digitalisierung für ein funktionierendes Gesundheitswesen. Dabei gab es aber auch kritische ...
Gesundheitsberufe – eine Singlebörse
Eine aktuelle Umfrage erklärt, warum Angehörige von Gesundheitsberufen oftmals Menschen aus demselben Berufsfeld heiraten.