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Prä- und Perinatalmedizin

Frühgeborene an der Grenze der Lebensfähigkeit

<p class="article-intro">„Jedes Kind hat einen Anspruch auf eine Behandlung, die seinen individuellen Bedürfnissen angemessen ist, unabhängig von seinen Lebens- und Überlebensaussichten.“ Dieses Zitat aus der UN-Kinderrechtskonvention stellt gerade in der reellen Umsetzung bei extrem kleinen Frühgeborenen eine große Herausforderung für jedes Perinatalzentrum dar.</p> <p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> Wir empfehlen an einem Perinatalzentrum im multidisziplin&auml;ren Umgang mit extrem Fr&uuml;hgeborenen an der Grenze der Lebensf&auml;higkeit folgendes standardisierte Vorgehen: <ul> <li>Kl&auml;rung des medizinischen Sachverhaltes</li> <li>ethische Abw&auml;gung</li> <li>Pr&uuml;fung des Lebenskontextes des Kindes</li> <li>Konsensusfindung und Entscheidung im Team unter Ber&uuml;cksichtigung des Elternwillens</li> <li>Zustimmung der &auml;rztlichen Leitungen und exakte Dokumentation</li> <li>Durchf&uuml;hrung eines Elterngespr&auml;ches unter repetitiver &Uuml;berpr&uuml;fung und Reevaluation aller Entscheidungen</li> </ul> </div> <h2>Rechtliche Grundlagen</h2> <p>Probleme bereiten allt&auml;gliche Konflikte in der Abw&auml;gung unterschiedlicher Rechts&shy;g&uuml;ter: Zum einen besteht eine &auml;rztliche Verpflichtung zur Lebenserhaltung, wenn auch nicht unter allen Umst&auml;nden. Zum anderen kann ein Behandlungsabbruch auch gegen den Willen der Patienten oder deren Sorgeberechtigte erfolgen. Somit steht Lebenserhalt durch intensivmedizinische Ma&szlig;nahmen zur Erzielung eines mittel- bis langfristigen &Uuml;berlebens im Gegensatz zur Inkaufnahme lebenslanger k&ouml;rperlicher und geistiger Beeintr&auml;chtigungen. Konfliktfrei ist hierbei immer das Recht auf Grundversorgung (z.B. Linderung von Leiden und Schmerzen, die bestm&ouml;gliche Pflege, menschliche Zuwendung). Der juristische Rahmen ist nicht immer klar nachvollziehbar und konfliktfrei definiert. Kinder ben&ouml;tigen zur Vertretung ihrer Anspr&uuml;che Patientenvertreter, in der Regel die Eltern. Eltern wiederum haben das Recht, einer &auml;rztlich indizierten Behandlung des Kindes zuzustimmen oder sie abzulehnen, sind aber hierbei zwingend an das Kindeswohl gebunden. &Auml;rzte schlussendlich haben weder das Recht noch die Pflicht zu eigenm&auml;chtiger Heilbehandlung. In Notfallsituationen ist eine &auml;rztliche Stabilisierung gestattet, bis eine klare Abstimmung zusammen mit den Eltern hinsichtlich des Therapieziels erfolgen kann. Der leitende Gesichtspunkt muss aber in allen F&auml;llen das Wohl des Kindes sein.</p> <h2>Ethische Fragestellungen</h2> <p>Diese ergeben sich immer dann, wenn es eben an &bdquo;die Grenze&ldquo; geht, zum Beispiel bei Aussichtslosigkeit oder Beginn eines Sterbeprozesses oder bei der Sterbebegleitung f&uuml;r Eltern und Kind. In allen F&auml;llen ist immer der Faktor Zeit von entscheidender Bedeutung. In der Regel sollte keine Therapie abgebrochen werden, ohne dass ein ad&auml;quates &bdquo;Abschiednehmen&ldquo; m&ouml;glich war. Ziel von Arzt-Eltern-Gespr&auml;chen ist es im Wesentlichen, Entscheidungshilfen, gest&uuml;tzt auf Werte, Literatur und pers&ouml;nliche Erfahrungen, zu vermitteln. Es entsteht somit ein permanenter Dialog, in dem von &auml;rztlicher Seite die Sachkompetenz und von den Eltern die Wertekompetenz vertreten werden. Grundsatz sollte stets sein, dass Eltern die Last der Entscheidung nicht alleine tragen.</p> <h2>Mortalit&auml;t, Morbidit&auml;t und Prognose</h2> <p>Hinreichend bekannt und in vielen Studien dargestellt ist der Zusammenhang zwischen prognostischen Faktoren wie Gestationsalter sowie Gewicht bei Geburt, Geschlecht, Lungenreife, Qualit&auml;t des Perinatalzentrums und dem (neurologischen) Outcome extrem unreifer Fr&uuml;hgeborener. An der Grenze der Lebensf&auml;higkeit sind definitiv viele Faktoren ma&szlig;geblich verantwortlich f&uuml;r die Prognose des &Uuml;berlebens ohne schwere entwicklungsneurologische Beeintr&auml;chtigung. Uneinheitlich und zum Teil wenig wegweisend sind zumeist klinische Faktoren wie Nabelarterien-pH bei Geburt, APGAR-Werte oder die empfundene postnatale Vitalit&auml;t des Kindes und das Ansprechen auf Reanimationsma&szlig;nahmen. All diese Faktoren entscheiden nicht &uuml;ber die Proaktivit&auml;t neonatologischen Handelns, flie&szlig;en jedoch in die Entscheidungsfindung und in das gemeinsame Gespr&auml;ch mit den Eltern ein. Daten des German Neonatal Network (GNN) geben R&uuml;ckschl&uuml;sse auf potenziell vermeidbare Komplikationen der Fr&uuml;hgeburtlichkeit (Sepsis, NEC, Lungenblutung). Diese Faktoren werden determiniert als wichtige Faktoren, die mit Mortalit&auml;t bei Fr&uuml;hgeborenen (GNN-2010-Kohorte) assoziiert sind. Zuk&uuml;nftige Studien sollten daher auf Pr&auml;vention und Therapieoptimierung f&uuml;r diese Komplikationen abzielen. Konsens besteht, dass neurologische Sch&auml;digungen die bedeutsamste Langzeitmorbidit&auml;t darstellen.</p> <h2>Empfehlungen</h2> <p>Allgemeing&uuml;ltige Empfehlungen lassen sich nur schwer formulieren. Generell besteht das Postulat, die Versorgung dieser Hochrisikokinder immer in hochspezialisierten Perinatalzentren stattfinden zu lassen. Die Notwendigkeit der fetalen Lungenreifebehandlung, auch vor der 24. Schwangerschaftswoche, ist unumstritten, gerade dann, wenn potenziell nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Versorgung des Kindes erfolgreich verlaufen kann. Gleiches gilt f&uuml;r die Durchf&uuml;hrung einer Tokolyse. In Abh&auml;ngigkeit des Gestationsalters bei Geburt (22 bis 24 Schwangerschaftswochen) ist leitlinienkonform die Versorgung von Kindern geregelt bzw. empfohlen.</p> <div id="Fazit"> <h2>Fazit</h2> <p>Klinisch relevant ist der Weg zur eigentlichen Entscheidungsfindung:<br />Diese kann nur durch Aufkl&auml;rung und Beratung durch alle Berufsgruppen (&Auml;rzte, Pflege, Sozialteam) erfolgen unter der Ber&uuml;cksichtigung dessen, dass sich Eltern in einer enormen Belastungssituation befinden. Therapieziel&auml;nderungen sind regelm&auml;&szlig;ig im Team zu pr&uuml;fen und verpflichten zu einer kontinuierlichen Reevaluation. Eine Sterbebegleitung setzt eine ad&auml;quate palliative Betreuung in einem multidisziplin&auml;ren Kontext voraus, was in der Regel nur an einem Perinatalzentrum der h&ouml;chsten Versorgungsstufe zu gew&auml;hrleisten ist.<br />Die aktuelle AWMF-Leitlinie 024/019 stellt hier ein vorbildliches und hervorragendes Ger&uuml;st zum Umgang mit der Problematik &bdquo;Fr&uuml;hgeborene an der Grenze der Lebensf&auml;higkeit&ldquo; dar.</p> </div> <p>&nbsp;</p> <p><span class="link-color"><a class="article-link" href="../fachthemen/8049" data-locked="0">zur&uuml;ck zum Themenschwerpunkt zur OEGGG Jahrestagung</a></span></p> <p>&nbsp;</p></p> <p class="article-footer"> <a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a> <div class="collapse" id="collapseLiteratur"> <p><strong>1</strong> UN-Kinderrechtskonvention. &Uuml;bereinkommen &uuml;ber die Rechte des Kindes BGBl 1992; II: 121-44 <strong>2</strong> AWMF-Leitlinie 024-019 &bdquo;Fr&uuml;hgeborene an der Grenze der Lebensf&auml;higkeit&ldquo; &ndash; gemeinsame Empfehlung der DGGG, DGKJ, GNPI et al <strong>3</strong> Bundes&auml;rztekammer, Grunds&auml;tze der Bundes&auml;rztekammer zur &auml;rztlichen Sterbebegleitung. Deutsches &Auml;rzteblatt 2011; 108: A 346-A8 <strong>4</strong> Kletecka-Pulker M: Ethik und Recht der Reanimation: Wann muss man anfangen, wann soll man aufh&ouml;ren? J Kardiol 2014; 21 (Suppl. A): 5-8 <strong>5</strong> Leuthner SR: Borderline viability: controversies in caring for the extremely premature infant. Clin Perinatol 2014; 41: 799-814 <strong>6</strong> Lipp V, Brauer D: Behandlungsbegrenzung und &bdquo;futility&ldquo; aus rechtlicher Sicht. Z Palliativmed 2013; 14: 121-6 <strong>7</strong> Truog RD: Is it always wrong to perform futile CPR? N Engl J Med 2010; 362: 477-9 <strong>8</strong> Kaempf JW et al: Counseling pregnant women who may deliver extremely premature infants: medical care guidelines, family choices, and neonatal outcomes. Pediatrics 2009; 123: 1509-15 <strong>9</strong> &Ouml;sterreichische Gesellschaft f&uuml;r Kinder- und Jugendheilkunde. Erstversorgung von Fr&uuml;hgeborenen an der Grenze der Lebensf&auml;higkeit. Leitlinie der Arbeitsgruppe Neonatologie und p&auml;diatrische Intensivmedizin und der Arbeitsgruppe Ethik. Monatsschr Kinderheilk 2005; 153: 711-5 <strong>10</strong> Trotter A, Pohlandt F: Aktuelle Ergebnisqualit&auml;t der Versorgung von Fr&uuml;hgeborenen &lt;1500 g Geburtsgewicht als Grundlage f&uuml;r eine Regionalisierung der Risikogeburten. Z Geburtsh Neonatol 2010; 214: 55-61 <strong>11</strong> Tyson JE et al for the National Institute of Child Health and Human Development Neonatal Research Network: Intensive care for extreme prematurity &ndash; moving beyond gestational age. N Engl J Med 2008; 358: 1672-81 <strong>12</strong> Manley BJ et al: Clinical assessment of extremely premature infants in the delivery room is a poor predictor of survival. Pediatrics 2010; 125: e559-64 <strong>13</strong> Stichtenoth G et al: Major contributors to hospital mortality in very-low-birth-weight infants: data of the birth year 2010 cohort of the German Neonatal Network. Klin Padiatr 2012; 224: 276-81 <strong>14</strong> Smith PB et al: Approach to infants born at 22 to 24 weeks&rsquo; gestation: relationship to outcomes of more-mature infants. Pediatrics 2012; 129: e1508-16 <strong>15</strong> Reeves SA et al: Magnesium for fetal neuroprotection. Am J Obstet Gynecol 2011; 204: 1-4</p> </div> </p>
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