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Rückblick und Ausblick

Hereditäre Polyneuropathien

<p class="article-intro">Hereditäre Polyneuropathien wurden bereits Ende des 19. Jahrhunderts erstmals beschrieben. Die Nervenärzte Charcot und Marie in Frankreich und Tooth in England erkannten die familiäre Häufung eines meist symmetrischen distalen Muskelschwunds und der daraus resultierenden Muskelschwäche in den Unterschenkeln und Füßen, verbunden mit einer erheblichen Fußdeformierung und Gangstörung sowie einer Atrophie und Schwäche der kleinen Handmuskeln. Nach diesen Erstbeschreibern wird die Erkrankung bis heute als Charcot-Marie-Tooth (CMT)-Syndrom bezeichnet.</p> <hr /> <p class="article-content"><h2>Klinik</h2> <p>Der Krankheitsbeginn ist in jedem Lebensalter m&ouml;glich, liegt jedoch meistens in der Kindheit oder im Jugendalter. Der klassische CMT-Patient klagt in erster Linie &uuml;ber eine Schw&auml;che der Fu&szlig;- und Zehenheber. Der Schuhkauf ist erschwert durch den oft ausgepr&auml;gt hohen Rist mit Hohlfu&szlig; und gelegentlich auch Hammerzehenbildung (Abb. 1A). Durch die zus&auml;tzliche Schw&auml;che der Peronealmuskulatur kommt es oft zum &Uuml;berkn&ouml;cheln und auch zu gelegentlichen St&uuml;rzen mit Verletzungen.<br /> Bei fortgeschrittener Parese zeigt sich das typische Bild des Steppergangs. Im Krankheitsverlauf tritt h&auml;ufig auch eine Muskelschw&auml;che in den H&auml;nden auf. Die Patienten klagen &uuml;ber feinmotorische Probleme. Gelegentlich werden diese auch durch einen essenziellen Tremor weiter verst&auml;rkt. Je nach genetischer Ursache finden sich zus&auml;tzlich distale sensible St&ouml;rungen, die meistens die Oberfl&auml;chensensibilit&auml;t betreffen. Bei einzelnen genetischen Formen ist aber auch durch ein reduziertes Schmerzempfinden die Verletzungsgefahr erh&ouml;ht, Wunden heilen verz&ouml;gert oder auch gar nicht ab und es bilden sich tiefe Fu&szlig;ulzera. Bei anderen CMT-Patienten k&ouml;nnen wiederum starke neuropathische Schmerzen vorherrschen. Auch andere Zusatzsymptome wie z. B. Heiserkeit durch Stimmbandl&auml;hmung, Hypakusis, Sehst&ouml;rungen u. a. kommen bei seltenen Genotypen vor.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2020_Jatros_Neuro_2002_Weblinks_jat_neuro_2002_s6_abb1_auer-grumbach.jpg" alt="" width="250" height="431" /></p> <h2>Elektrophysiologische Klassifikation</h2> <p>Die zugrunde liegende Pathologie der peripheren Nerven wurde einige Jahrzehnte nach der Erstbeschreibung durch histologische Untersuchungen belegt. Bereits damals erkannte man, dass manche Formen der heredit&auml;ren motorisch-sensiblen Neuropathien (HMSN) &uuml;berwiegend durch eine Sch&auml;digung der Myelinscheide (= CMT1/HMSN Typ 1, demyelinisierende Form) bzw. andererseits durch prim&auml;r axonale Sch&auml;digung (= CMT2/HMSN Typ 2, axonale Form) erkl&auml;rt werden k&ouml;nnen. In den 1970er- bis 1980er-Jahren wurden diese St&ouml;rungen der peripheren Nerven dann auch durch elektroneurografische Untersuchungen best&auml;tigt. Die demyelinisierende Form (CMT1) geht mit einer erheblichen Verlangsamung der peripheren Nerven einher&nbsp;(&lt;38 m/s), bei axonalen Formen (CMT2) zeigt sich eine Verminderung der Amplituden der motorischen Nerven, bei noch normaler oder nur wenig ver&auml;nderter Nervenleitgeschwindigkeit (&gt;38 m/s). Als Referenznerv f&uuml;r die Unterteilung in die CMT1 und CMT2 wird der motorische N. medianus bzw. N. ulnaris herangezogen. Bei der HMSN sind auch die sensiblen Nerven entsprechend ver&auml;ndert. In der Elektromyografie (EMG) finden sich chronisch neurogene Ver&auml;nderungen. Rege Spontanaktivit&auml;t gibt Hinweise auf eine progressive Verlaufsform, wie sie v. a. bei den sp&auml;t beginnenden Formen h&auml;ufig vorkommt. Bei Patienten mit HINT1-Mutationen sind repetitive Entladungen h&auml;ufig. Auf Befragung geben diese Patienten auch oft Muskelkr&auml;mpfe bzw eine Myotonie in den H&auml;nden an.</p> <h2>Genetik</h2> <p>Nach der Erstbeschreibung der Erkrankung wurde bald klar, dass &ndash; trotz des gleichen oder &auml;hnlichen klinischen Erscheinungsbilds &ndash; wohl unterschiedliche genetische Ursachen ma&szlig;gebend sind. Dies best&auml;tigte sich dann auch im Laufe der 1980er- und 1990er-Jahre, in denen genetische Untersuchungen die zugrunde liegenden Mutationen mehr und mehr aufdeckten. F&uuml;r die klinisch gut abgrenzbare und deutlich h&auml;ufigere CMT1 konnten erstmals die genetischen Ursachen entschl&uuml;sselt werden. Dominante Mutationen in den wichtigen, vorwiegend in Schwann-Zellen exprimierten Myelingenen des peripheren Nervensystems PO/MPZ (&bdquo;myelin protein zero gene&ldquo;) und PMP22 (&bdquo;peripheral myelin protein 22 gene&ldquo;) erwiesen sich neben dem GJB1 (&bdquo;gap junction beta-1-gene&ldquo;) als die f&uuml;hrenden Gene bei heredit&auml;ren Neuropathien. Die genetische Aufkl&auml;rung der prim&auml;r axonalen Formen gestaltete sich jedoch schwieriger, nicht zuletzt aufgrund der sehr unterschiedlichen, komplexen Wirkungsmechanismen in den Nervenzellen, in denen Fehlfunktionen zum Krankheitsbild f&uuml;hren. Als Hauptgen gilt hier v. a. MFN2 (&bdquo;mitofusin 2 gene&ldquo;) bei den dominanten Formen. &Uuml;berraschenderweise wurden im Laufe der letzten 30 Jahre immer mehr Gene identifiziert, die in der Pathogenese der heredit&auml;ren Polyneuropathien eine Rolle spielen. So sind bis heute Mutationen in mehr als 80 Genen bekannt, die entweder in heterozygoter Form bereits krankheitskausal sind oder aber bei autosomal rezessiver bzw. x-gebundener Vererbung zur CMT-Erkrankung f&uuml;hren. Auch in &Ouml;sterreich, wo man von ca. 4000 CMT-Patienten ausgeht, sind in bereits mehr als 40 Genen Mutationen als Ursache f&uuml;r die CMT-Erkrankung identifiziert worden. Wie auch international kommt die demyelinisierende CMT1A am h&auml;ufigsten vor, gefolgt von der an sich selteneren distalen heredit&auml;ren motorischen Neuropathie Typ 5 (dHMN-V) mit Mutation im BSCL2 (&bdquo;Berardinelli-Seip congenital lipodystrophy gene&ldquo;)-Gen. Diese ist bedingt durch die Founder-Mutation Asn88Ser, deren Ursprung bis ins sp&auml;te 17. Jahrhundert zur&uuml;ckverfolgt werden konnte. Nicht nur bei dieser speziellen genetischen Form, sondern auch bei anderen genetischen Subtypen besteht manchmal eine asymmetrische Verteilung der Muskelatrophie (Abb. 1B). Auch finden sich bei der dHMN-V meist lebhafte Muskeleigenreflexe der unteren Extremit&auml;ten.<br /> Viele genetische Ursachen wurden im Zuge von Familienuntersuchungen (Koppelungsanalysen) zun&auml;chst im Genom lokalisiert und durch schrittweise Testung von Kandidatengenen schlie&szlig;lich gekl&auml;rt. Auch fanden zeitgleich umfassende Genotyp-Ph&auml;notyp -Studien statt, durch die es m&ouml;glich wurde, Besonderheiten f&uuml;r einzelne genetische Untertypen hervorzuheben. So erfolgte auch die Abgrenzung der distalen rein bzw. &uuml;berwiegend heredit&auml;ren motorischen Neuropathien (dHMN) bzw. jener Untergruppe, bei der &uuml;berwiegend sensible und/oder autonome Nervenfasern (= heredit&auml;re sensibel-autonome Neuropathie, HSN bzw HSAN) betroffen sind. Alle Erbg&auml;nge sind m&ouml;glich, jedoch &uuml;berwiegen bei uns dominante Formen, in L&auml;ndern mit einem h&ouml;heren Anteil an Konsanguinit&auml;t stehen jedoch rezessive Formen im Vordergrund. Nicht selten tritt aber die CMT-Erkrankung auch sporadisch auf.</p> <h2>Genetische Diagnostik</h2> <p>Trotz immenser Verbesserung der technischen M&ouml;glichkeiten, die uns nun f&uuml;r die genetische Diagnostik zur Verf&uuml;gung stehen &ndash; insbesondere durch das seit einigen Jahren entwickelte Next Generation Sequencing (NGS), das mittlerweile nicht nur in der Forschung, sondern auch f&uuml;r die rasche Routinediagnostik angewandt wird &ndash; gelingt es weiterhin bei nahezu 50 % der CMT Patienten nicht, den Genotyp zuzuordnen. Da das Wissen um den Genotyp f&uuml;r die Beratung der Patienten hinsichtlich des zu erwartenden Krankheitsverlaufs wichtig ist, ist die Zuordnung zur zugrunde liegenden genetischen Abweichung von entscheidender Bedeutung. Sie ist ebenso f&uuml;r junge Patienten mit Kinderwunsch essenziell, um durch Best&auml;tigung der genetischen Diagnose in Bezug auf das zu erwartende Vererbungsrisiko beraten zu k&ouml;nnen. Auch ist in schweren F&auml;llen eine Pr&auml;implantationsdiagnostik nur dann m&ouml;glich, wenn die genetische Ursache eindeutig zugeordnet werden kann.<br /> Die genetische Abkl&auml;rung wird in &Ouml;sterreich bereits an mehreren Institutionen bzw. Labors angeboten und kann vom Facharzt f&uuml;r Neurologie, Orthop&auml;die oder Humangenetik nach entsprechender genetischer Beratung veranlasst werden. Die Auswahl des genetischen Tests (Einzelgenanalyse, NGS mit Panel oder &bdquo;whole exome sequencing&ldquo;, etc) erfolgt individuell in Abh&auml;ngigkeit vom klinisch-elektrophysiologischen Ph&auml;notyp, von der Gr&ouml;&szlig;e des vermutlich mutierten Gens und vorhandenen Vorbefunden. Durch die mittlerweile kosteng&uuml;nstige Testung mittels NGS-Methoden ist die bisher meist angewandte Sanger-Sequenzierung einzelner CMT-Gene deutlich in den Hintergrund ger&uuml;ckt. Abbildung 2 zeigt einen m&ouml;glichen diagnostischer Algorithmus.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2020_Jatros_Neuro_2002_Weblinks_jat_neuro_2002_s7_abb2_auer-grumbach.jpg" alt="" width="850" height="526" /></p> <h2>Ausblick</h2> <p>Erfreulicherweise ist in den letzten Jahren die CMT-Erkrankung auch in &Ouml;sterreich deutlich bekannter geworden. Ziel ist es, dass nicht nur Orthop&auml;den und Neurologen, die die h&auml;ufigsten Ansprechpartner der CMT-Patienten sind, das Krankheitsbild kennen, verstehen und abkl&auml;ren k&ouml;nnen, sondern dass auch Allgemeinmediziner, Schul&auml;rzte sowie Krankenversicherungen etc. das Wesen dieses Krankheitsbildes erfassen und verstehen k&ouml;nnen. Als Selbsthilfegruppe hat sich CMT Austria formiert und bietet den Betroffenen laufend aktualisierte Informationen zur Erkrankung und auch &uuml;ber geplante Therapiestudien, die v. a. zur pathogenetisch gut charakterisierten CMT1A immer wieder durchgef&uuml;hrt werden. Auch wenn eine urs&auml;chliche Therapie bisher noch nicht zur Verf&uuml;gung steht, besteht dennoch zumindest f&uuml;r einzelne Subtypen berechtigter Grund zur Hoffnung, dass CMT zuk&uuml;nftig nicht nur symptomatisch durch Physiotherapie, Schmerzmittel und orthop&auml;dische Hilfsmittel wie Orthesen und Schuhanpassung behandelt werden kann, sondern auch, dass durch kausale Therapien der Krankheitsverlauf zumindest verz&ouml;gert oder auch gestoppt werden kann. Aus diesen Gr&uuml;nden sind die vollst&auml;ndige Erfassung und genaue Klassifikation der Betroffenen unerl&auml;sslich, um allen CMT-Patienten eine individual- und sozialmedizinisch ad&auml;quate Versorgung zukommen zu lassen.</p></p> <p class="article-footer"> <a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a> <div class="collapse" id="collapseLiteratur"> <p>bei der Verfasserin</p> </div> </p>
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