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Innovationswelle erreicht auch NMOSD
Jatros
30
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19.12.2019
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<p class="article-intro">Die Innovationswelle in der Therapie der Multiplen Sklerose ist noch nicht beendet. Auf dem diesjährigen ECTRIMS-Kongress wurden neue Daten zu oralen und vor allem neuen Antikörpertherapien präsentiert. Sehr erfreulich ist, dass auch die Neuromyelitisoptica- Spektrum-Erkrankungen (NMOSD) als eigene Entität verstärkt wahrgenommen werden. Die größere diagnostische Sensibilisierung setzt sich auch in der Therapieforschung fort. Mehrere Wirkstoffkandidaten sind in der klinischen Entwicklung.</p>
<hr />
<p class="article-content"><p>Weiter auf dem Vormarsch sind insbesondere neue Anti-CD20-Antikörper wie Ofatumumab. In den Phase-III-Studien ASCLEPIOS I und II reduzierte Ofatumumab 20 mg s.c. alle vier Wochen im Vergleich zu Teriflunomid bei der RRMS die jährliche Schubrate um mehr als 50 % , auch die Behinderungsprogression (bestätigt nach 3 bzw. 6 Monaten) wurde signifikant gesenkt. Schwerwiegende Nebenwirkungen waren in beiden Behandlungsgruppen gleich verteilt. Für Tumorerkrankungen ergab sich kein relevantes Sicherheitssignal.<sup>1</sup> Mit IMU-838 (Vidofludimus Calcium) wird derzeit ein neuer oraler Immunmodulator untersucht. Der Wirkstoff blockiert wie Teriflunomid das Enzym Dihydroorotat-Dehydrogenase (DHODH), hat aber nach Aussage der Entwickler im Vergleich zu Teriflunomid eine 10-fach höhere Aktivität an der DHODH. Die Phase- II-Studie EMPhASIS (NCT03846219) soll demnächst starten. Dort soll IMU-838 in zwei Dosierungen (30 bzw. 45 mg/d) bei Patienten mit RRMS über 24 Wochen untersucht werden.<sup>2</sup><br /> Hochdosiertes Biotin (MD1003) hat in Frankreich eine temporäre Zulassung zur Therapie der progressiven MS (PMS) erhalten. In einer Real-World-Studie stabilisierte MD 1003 bei 47 % der 85 PMS-Patienten nach 12 und 24 Monaten den Behinderungsgrad (EDSS: median 6,5). Eine Reduktion des EDSS wurde bei 12,2 % der Patienten nach 24 Monaten erreicht.</p> <h2>Eisenablagerungen als Krankheitsmarker?</h2> <p>MRT-Aufnahmen und histopathologische Untersuchungen zeigen abnorme ringförmige Eisenablagerungen (Iron Rim Layer; IRL) in proinflammatorischen Eisen- haltigen Mikrogliazellen und Makrophagen am Rand von Hirnläsionen von MS-Patienten. Die IRL-Läsionen werden als Subgruppe chronisch aktiver Läsionen angesehen. Darüber hinaus können erhöhte Konzentrationen an reaktivem Eisen oxidativen Stress hervorrufen, welcher zur Neurodegeneration im Gehirn führen kann.<br /> In einer Langzeitstudie untersuchte eine Wiener Arbeitsgruppe bei drei Patientenkohorten (Patienten mit benigner MS, RRMS und SPMS; n=33) mithilfe eines 7-Tesla-MRT verschiedene Fragen zur Entstehung und dynamischen Entwicklung der IRL. Die Untersuchungsdauer betrug bis zu sieben Jahre.<br /> Die Verlaufsuntersuchung zeigte, dass IRL häufiger bei RRMS-Patienten als bei SPMS-Patienten auftraten und sich im Gegensatz zu nicht Eisen-haltigen Ablagerungen (Non-IRL) zunächst vergrößerten. IRL waren insgesamt größer als Non-IRL und verhielten sich destruktiv, Non-IRL nicht. Über längere Zeiträume sank der Eisengehalt der IRL wieder; die IRL waren von einer Zone der Waller’schen Degeneration (Degeneration des distalen Abschnitts des Axons) umgeben.<br /> Diese Vorgänge verlaufen sehr, sehr langsam und sind daher nur schwer nachzuweisen, betonte Dr. Assunta dal Bianco, Privatklinik Confraternität. „Diese Langzeitdaten hat noch nicht einmal das NIH“, kommentierte Prof. Hans Lassmann, Abteilung für Neuroimmunologie an der Medizinischen Universität Wien, die Bedeutung dieser Daten. Untersuchungen zur klinischen Bedeutung der IRL – möglicherweise als Marker für die Krankheitsaktivität – sollen folgen.<sup>3</sup></p> <h2>Kognition im Langzeitverlauf</h2> <p>Obwohl eine Vielzahl von MS-Patienten bereits bei Diagnosestellung kognitive Beeinträchtigungen hat, gibt es nur wenige Langzeitstudien zur langfristigen Entwicklung der Kognition. Mit einem „Top-Score- Posterpreis“ wurde auf dem ECTRIMS eine Langzeitstudie über 10 Jahre von Ass.-Prof. Mag. Dr. Daniela Theresia Pinter, Universität Graz, ausgezeichnet.<sup>4</sup> Die Auswertung der Verläufe von 63 Patienten mit MS zeigte bei 52 % kognitive Defizite in ≥1 Domäne; am häufigsten betroffen war die Verarbeitungsgeschwindigkeit (40 % ). Obwohl im weiteren Follow-up in der Gesamtgruppe die T2-Läsionslast anstieg und das Hirnvolumen gegenüber Baseline zurückging, veränderten sich der EDSS (Baseline: 2,0) und die Kognition, gemessen mit dem BRB-N (Brief Repeatable Battery of Neuropsychological Tests in MS) in den folgenden 10 Jahren insgesamt nicht. Nur 14,3 % der Patienten verzeichneten eine Verschlechterung der Kognition. Diese Subgruppe war charakterisiert durch größere strukturelle Schädigungen und kognitive Defizite bereits bei Baseline sowie in der Folge durch eine höhere T2-Läsionslast und ausgeprägtere Hirnatrophie. Anhand der T2-Läsionslast und der Hirnatrophie ließen sich kognitiv stabile Patienten und solche mit sich verschlechternder Kognition unterscheiden.</p> <h2>Natalizumab-Switch – Erfahrungen in Österreich</h2> <p>Die Arbeitsgruppe um OA Dr. Michael Guger, Linz, stellte eine neue Auswertung des Austrian MS Treatment Registry (AMSTR) mit 195 Patienten vor, die seit 2006 auf Natalizumab über mindestens 24 Monate eingestellt waren und auf Fingolimod umgestellt wurden.<sup>5</sup> Der Krankheitsverlauf nach der Umstellung auf Fingolimod blieb insgesamt stabil und unterschied sich nicht im Hinblick auf die Dauer der Transitionszeit (<3 Monate, 3–6 Monate oder 6–12 Monate). Allerdings nahm mit steigender Dauer der Transitionszeit die Häufigkeit neuer Schübe zu (<3 Monate: 5,2 % ; 3–6 Monate: 13,6 % ; 6–12 Monate: 43,8 % ). Die Autoren empfehlen daher eine Transitionszeit von 3 Monaten oder weniger.<br /> Die Umstellung von Natalizumab auf eine andere krankheitsmodifizierende Therapie erfolgt vorzugsweise bei Hochrisikopatienten. Um die Entwicklung einer progressiven multifokalen Leukenzephalopathie (PML) während der Transition (Carry-Over-PML) frühzeitig entdecken und behandeln zu können, schlägt eine Münchener Arbeitsgruppe vor, eine Analyse der Zerebrospinalflüssigkeit auf Vorliegen von JCV-DNA vor dem Switch durchzuführen.<sup>6</sup> Die mit einem „Top- Score-Posterpreis“ ausgezeichnete Posterpräsentation zeigt, dass damit eine Carry- Over-PML bei einem von 44 ausgewerteten Patienten nach dem Auftreten klinischer oder radiologischer Zeichen vor dem Switch zu Ocrelizumab entdeckt werden konnte.</p> <h2>Viel Neues bei der NMOSD</h2> <p>NMOSD werden heute nicht mehr als Variante der MS angesehen, sondern als separate Entität als Gruppe seltener autoimmun bedingter entzündlicher Erkrankungen des ZNS. Spezifische Marker der Neuromyelitis optica (NMO) sind Aquaporin- 4(AQP4)-Autoantikörper. Die Progression ist abhängig von akutentzündlichen Ereignissen. Das primäre Ziel der Therapie ist es, Schübe zu vermeiden. Lange Zeit therapeutisch vernachlässigt, sind inzwischen verschiedene Antikörper in fortgeschrittenen Stadien der klinischen Prüfung oder bereits zugelassen. Angesichts der großen Anzahl wirksamer Kandidaten hat die American Academy of Neurology (AAN) 2019 bereits als „Jahr der NMO“ ausgerufen, berichtete Prof. Brian Weinshenker von der Mayo Clinic in Rochester, in einer Hot Topic Session.<sup>7</sup> Eine Schlüsselstellung in der Signalgebung besitzt Interleukin 6 (IL-6). Die Konzentration von IL-6 und des löslichen IL-6-Rezeptors (sIL-6R) ist im Liquor von NMO-Patienten höher als bei MS-Patienten. Dies kann zu einem nützlichen Marker zur Differenzierung von NMO von anderen demyelinisierenden Erkrankungen werden. Gegenwärtig werden verschiedene, gegen IL-6 gerichtete Antikörper untersucht. Auch für den in der Rheumatologie bereits bekannten Interleukin-6-Inhibitor Tocilizumab wurde die Wirksamkeit nachgewiesen.<sup>8</sup> Allerdings wird eine Zulassungserweiterung für Tocilizumab nicht angestrebt. Der Anti-Interleukin-6-Rezeptor- Antikörper Satralizumab reduzierte in den beiden zulassungsrelevanten Phase-III- Studien SAkuraStar und SAkuraSKy (insgesamt n=178) das Risiko eines erneuten Schubes signifikant um 55 % bzw. 62 % . Die Inzidenzraten unerwünschter Ereignisse war auf Placeboniveau.<br /> Ende August 2019 wurde die Zulassung von Eculizumab (Soliris<sup>®</sup>) von der EMA auf die Behandlung der (schubförmigen, AQP4- positiven) NMO-SD erweitert. Eculizumab ist ein Antikörper gegen das Protein C5 des Komplementsystems. Die NMO geht auch mit einer Komplementaktivierung einher, die durch Komplementablagerungen im Rückenmark von Patienten nachgewiesen wurde. Eculizumab muss alle zwei Wochen als Infusion verabreicht werden.<br /> Ende August 2019 wurde die Zulassung von Eculizumab (Soliris<sup>®</sup>) von der EMA auf die Behandlung der (schubförmigen, AQP4- positiven) NMO-SD erweitert. Eculizumab ist ein Antikörper gegen das Protein C5 des Komplementsystems. Die NMO geht auch mit einer Komplementaktivierung einher, die durch Komplementablagerungen im Rückenmark von Patienten nachgewiesen wurde. Eculizumab muss alle zwei Wochen als Infusion verabreicht werden. Ein weiterer Kandidat ist Ineblizumab. Der Antikörper erhielt 2017 den Orphan- Drug-Status der EMA. Er depletiert reife und unreife CD19-exprimierende B-Zellen. In der N-MOmentum-Studie reduzierte Ineblizumab das Risiko einer Behinderungsprogression um 63 % und das Risiko für neue MRT-Läsionen um 43 % . Die NNT („number needed to treat“) zur Verhinderung eines EDSS-Anstieges um einen Punkt innerhalb von 6,5 Monaten betrug 6. Besonders deutlich profitierten – wie auch bei den anderen Antikörpern– AQP4-seropositive Patienten von der Therapie. Die Reduktion des Risikos einer Behinderungsprogression war unabhängig vom Baseline- EDSS, der Schubrate in der Vergangenheit und der Krankheitsdauer. Unerwünschte Ereignisse (UE) und schwerwiegende UE waren zwischen den Studienarmen ausgeglichen.<sup>9</sup> Die Inzidenz schwerer unerwünschter Ereignisse betrug 16 % . Infusionsbedingte Reaktionen traten unter der ersten der beiden Infusionen häufiger auf als unter Placebo: Insgesamt war aber die Rate infusionsbedingter Reaktionen unter Ineblizumab und Placebo vergleichbar hoch. In der Open-Label-Phase traten unter dem Antikörper zwei Todesfälle auf: einer im Rahmen eines schweren Schubes und einer durch ein ätiologisch unklares zerebrales Ereignis, wahrscheinlich aufgrund neuer Hirnläsionen.<sup>10</sup></p></p>
<p class="article-quelle">Quelle: ECTRIMS-Jahrestagung, 11.–13. September 2019, Stockholm
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<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
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<p><strong>1</strong> Hauser S et al.: ECTRIMS 2019; Abstract 336 <strong>2</strong> Muehler A et al.: ECTRIMS 2019; Poster P635 <strong>3</strong> Dal-Bianco A et al.: ECTRIMS 2019; Abstract 150 <strong>4</strong> Pinter D et al.: ECTRIMS 2019; Poster P785 <strong>5</strong> Guger M et al.: ECTRIMS 2019; Poster P634 <strong>6</strong> Meinl I et al.: ECTRIMS 2019; Poster P665 <strong>7</strong> Weinshenker B: ECTRIMS 2019; Abstract 190 <strong>8</strong> Dalla Costa G et al.: ECTRIMS 2019; Poster P729 <strong>9</strong> Marignier R et al.: ECTRIMS 2019; Poster P1604 <strong>10</strong> Cree B et al.: ECTRIMS 2019; Abstract 139</p>
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