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Vom neuronalen Navigationssystem bis zur Nahtoderfahrung

<p class="article-intro">Zum fünften Mal lud die European Academy of Neurology im vergangenen Juni zu ihrem jährlichen Kongress, der einen Überblick über den aktuellen Wissensstand der Neurowissenschaften sowie ein breites Fortbildungsangebot lieferte. Tagungsort war in diesem Jahr die norwegische Hauptstadt Oslo.</p> <hr /> <p class="article-content"><p>F&uuml;r die Festrede zum EAN-Kongress 2019 konnte das Gastgeberland Norwegen mit einem Nobelpreistr&auml;ger aufwarten. Prof. Dr. Edvard Moser von der Universit&auml;t Trondheim erl&auml;uterte die neuronalen Hintergr&uuml;nde zeitlicher und r&auml;umlicher Orientierung sowie die Ver&auml;nderungen der verantwortlichen Systeme im Rahmen von Demenzerkrankungen. F&uuml;r das &bdquo;Space-Mapping&ldquo; sind im Gehirn sogenannte Rasterzellen (&bdquo;grid cells&ldquo;) verantwortlich, die auch als GPS-System des Gehirns bezeichnet werden. Sie generieren hexagonale Raster, die unsere r&auml;umliche Umwelt beschreiben und Informationen zu Distanzen und Richtungen liefern. Die &bdquo;grid cells&ldquo; repr&auml;sentieren die Umwelt also gewisserma&szlig;en in Form eines Bienenwabenmusters. Jedes dieser Sechsecke hat einen Mittelpunkt, um den sechs Nachbarn jeweils im Winkel von 60 Grad angeordnet sind. Damit besteht 60-Grad-Rotationssymmetrie und der Raum kann l&uuml;ckenlos abgedeckt werden. Die Rasterzellen sind jeweils auf einen bestimmten Punkt des Rasters spezialisiert und werden aktiv, wenn dieser Punkt eingenommen wird. F&uuml;r die Entdeckung dieser &bdquo;grid cells&ldquo; im Jahr 2005 erhielt Moser gemeinsam mit einigen anderen Forschern im Jahr 2014 den Nobelpreis f&uuml;r Medizin. Dar&uuml;ber hinaus sind mittlerweile zahlreiche weitere auf die r&auml;umliche Orientierung spezialisierte Zellen bekannt, wie zum Beispiel Vektorzellen oder Zellen, die Geschwindigkeit detektieren. Moser wies auch darauf hin, dass das Verst&auml;ndnis der neuronalen Repr&auml;sentation r&auml;umlicher Orientierung wesentliche Einsichten in grundlegende Funktionsmuster des Gehirns geliefert hat und als Modell daf&uuml;r dienen kann, wie h&ouml;here Gehirnfunktionen generell strukturiert sind. So lie&szlig;en sich die Erkenntnisse zum &bdquo;Space-Mapping&ldquo; auch auf andere kognitive Prozesse wie Ged&auml;chtnis und Planung umlegen. Das Verst&auml;ndnis dieser Systeme ist auch ma&szlig;geblich f&uuml;r die Erforschung von Demenzerkrankungen. Moser: &bdquo;Die neuronalen Netzwerke, die Raum und Zeit erschaffen, sind die Ersten, die im Rahmen einer Demenz sterben &ndash; m&ouml;glicherweise beginnt dieser Prozess bereits Jahrzehnte, bevor die volle Symptomatik einer Alzheimererkrankung sichtbar wird. Damit sind diese Erkenntnisse auch bedeutsam f&uuml;r die klinische Neurowissenschaft und unseren Kampf gegen Erkrankungen des Gehirns.&ldquo;</p> <h2>Morbus Alzheimer: Amyloid-Hypothese nicht widerlegt</h2> <p>Im Kampf gegen den Morbus Alzheimer sind die spektakul&auml;ren Erfolge bislang ausgeblieben. Insbesondere gegen Amyloid gerichtete Therapieversuche brachten in klinischen Studien nicht die erhofften Erfolge. Allerdings sollte dies nicht dazu f&uuml;hren, dass die &bdquo;Amyloid-Hypothese&ldquo; verlassen werde, so Prof. Dr. Bart De Strooper, Direktor des Londoner UK Dementia Research Institute, der in diesem Jahr die Brain Prize Lecture der EAN hielt. De Strooper und seine Gruppe konnten in der Vergangenheit die Rolle von Amyloid bei heredit&auml;ren Formen der Alzheimerdemenz nachweisen: So f&uuml;hren genetische Mutationen von Presenilin (eines Bestandteils des &gamma;-Sekretase-Protein-Komplexes) dazu, dass pathologische Formen von Amyloid eine Plaquebildung hervorrufen. Auch bei der sporadischen Alzheimerkrankheit spreche alles daf&uuml;r, dass die Akkumulation des Peptids Amyloid-&beta; zur Bildung von Plaques und in weiterer Folge zu neurodegenerativen Prozessen f&uuml;hrt. Die frustrierenden Ergebnisse klinischer Studien seien durch den sehr sp&auml;ten Zeitpunkt der Behandlung erkl&auml;rbar. Die Alzheimererkrankung entwickle sich &uuml;ber Jahrzehnte und der Fokus auf die sp&auml;ten, klinisch manifesten Stadien stehe der Entwicklung wirksamer Therapien im Wege. Morbus Alzheimer sei keine Demenzerkrankung, sondern ein &uuml;ber Jahrzehnte laufender pathologischer Prozess, der schlie&szlig;lich in der Demenz ende. Zwar bleibe Amyloid das Ziel der Wahl, doch m&uuml;sse sich die Forschung in Zukunft auf die zellul&auml;ren und molekularen Prozesse konzentrieren, die der Plaquebildung vorausgehen. Aktuelle Grundlagenforschung spreche f&uuml;r eine entscheidende Rolle der Mikroglia in dieser pr&auml;klinischen Phase der Erkrankung. <br />Dass Versuche, den klinischen Verlauf der Alzheimerdemenz zu beeinflussen, bislang weitgehend gescheitert sind, bedeutet nicht, dass sich die Situation von Demenzpatienten nicht durch medikament&ouml;se Behandlung verbessern lie&szlig;e. So zeigte eine im Rahmen des EAN 2019 vorgestellte Studie, dass Statine die Mortalit&auml;t und das Schlaganfallrisiko von Demenzpatienten reduzieren. F&uuml;r die Studie wurden Daten aus den Jahren 2008&ndash;2015 von 44 920 schwedischen Patienten aus dem Swedish Dementia Registry ausgewertet. Diese Auswertung zeigte, dass die Mortalit&auml;t von Patienten, die Statine nahmen, um 22 % reduziert war. Auch das generell bei Demenzpatienten deutlich erh&ouml;hte Schlaganfallrisiko war unter Statineinnahme um 23 % reduziert. Bei Patienten mit vaskul&auml;rer Demenz war der protektive Effekt besonders ausgepr&auml;gt. Ebenso profitierten Patienten unter 75 Jahren deutlicher als Patienten &uuml;ber 75 sowie M&auml;nner mehr als Frauen.<sup>1</sup> Erstautorin Dr. Sara Garcia-Ptacek vom schwedischen Karolinska-Institut betonte anl&auml;sslich der Pr&auml;sentation der Daten, dass eine Kohortenstudie zwar nicht die Aussagekraft einer klinischen Studie habe, dass sich die Ergebnisse jedoch weitgehend mit den Erfolgen decken, die mit Statinen bei &auml;lteren Menschen ohne Demenz erreicht werden. <br />Eine weitere im Rahmen des Kongresses vorgestellte Studie brachte hingegen schlechte Nachrichten: Patienten mit multipler Sklerose haben ein erh&ouml;htes Risiko, an Krebs zu erkranken. Besonders deutlich ist die H&auml;ufung bei Malignomen des Respirationstraktes (um 66 % erh&ouml;htes Risiko), des Harntraktes sowie des zenralen Nervensystems. Dies zeigte eine Auswertung einer norwegischen Langzeitstudie, die fast 7000 MS-Patienten und ihre nahen Verwandten &uuml;ber bis zu 65 Jahre beobachtete. Geschwister von MS-Kranken zeigten ein erh&ouml;htes Risiko, h&auml;matologische Malignome zu entwickeln. Dieses war auch h&ouml;her als bei ihren MS-kranken Geschwistern.<sup>2</sup> Die mechanistischen Hintergr&uuml;nde dieser Befunde sind unklar. Die Autoren halten es allerdings f&uuml;r ratsam, bei Patienten mit MS auch im Hinblick auf Krebserkrankungen wachsam zu bleiben, um diese im Falle des Falles fr&uuml;h diagnostizieren zu k&ouml;nnen.</p> <h2>Nahtoderfahrungen treten nicht nur in Lebensgefahr auf</h2> <p>Zahlreiche im Rahmen des Kongresses vorgestellte Arbeiten besch&auml;ftigten sich mit seltenen Erkrankungen bzw. nicht allt&auml;glichen neurologischen Funktionsst&ouml;rungen. Unter anderem mit einem f&uuml;r die Betroffenen oft erschreckenden, jedenfalls aber eindrucksvollen Ph&auml;nomen: Nahtoderfahrungen. Diese sind, so eine internationale Forschergruppe, h&auml;ufiger als zumeist angenommen. Bis zu zehn Prozent der Gesamtbev&ouml;lkerung d&uuml;rften irgendwann davon betroffen sein. Die Studie, f&uuml;r die etwas &uuml;ber 1000 zuf&auml;llig ausgew&auml;hlte Probanden befragt wurden, zeigt auch, dass Nahtoderfahrungen in tats&auml;chlich gef&auml;hrlichen Situationen wie zum Beispiel im Zusammenhang mit Unf&auml;llen oder Herzinfarkten auftreten k&ouml;nnen &ndash; aber keineswegs nur in diesem Zusammenhang. Rund die H&auml;lfte der beschriebenen Erlebnisse stellte sich ohne krisenhaftes Ereignis ein. F&uuml;r die Evaluierung solcher Erfahrungen existiert mittlerweile sogar ein validiertes Instrument, die Greyson Near-Death Experience Scale, mit der 16 spezifische Symptome abgefragt werden. Damit eine Nahtoderfahrung als &bdquo;echt&ldquo; klassifiziert wird, m&uuml;ssen auf der Skala sieben Punkte erreicht werden. Insgesamt waren 289 Personen, also fast ein Drittel der Befragten, der Ansicht, schon einmal eine Nahtoderfahrung gemacht zu haben, bei 106 Befragten wurde der Grenzwert auf der Greyson- Skala erreicht. Die Pr&auml;valenz von Nahtoderfahrungen war damit in dieser Studie h&ouml;her als in &auml;lteren Befragungen, die beispielsweise mit Herzstillstand-&Uuml;berlebenden durchgef&uuml;hrt wurden.<br /> Als h&auml;ufigste Symptome wurden verzerrte Zeitwahrnehmung (87 %), ungew&ouml;hnlich beschleunigte Gedanken (65 %), ungew&ouml;hnlich empfindliche Sinne (63 %) sowie das Gef&uuml;hl, den K&ouml;rper zu verlassen (53 %), angegeben. Viele Befragte sahen ihr Leben wie im Film vor&uuml;berziehen, waren in einem schwarzen Tunnel in Richtung Licht unterwegs oder h&ouml;rten die Engel singen. Allerdings wurden auch ausgesprochen beunruhigende Erfahrungen angegeben. So zum Beispiel vollst&auml;ndige Bewegungsunf&auml;higkeit, verbunden mit dem Gef&uuml;hl, ein D&auml;mon s&auml;&szlig;e auf der Brust. Von den Personen mit mehr als sieben Punkten auf der Greyson-Skala empfanden 53 % ihre Nahtoderfahrung als angenehm und 14 % als unangenehm.<sup>3</sup> Untersucht wurde auch eine m&ouml;gliche Assoziation von Nahtoderfahrungen mit dem Auftreten bestimmter Charakteristika des REM-Schlafes im Wachzustand (&bdquo;REM intrusion&ldquo;), wie sie in &auml;lteren Arbeiten gefunden wurde.<sup>4</sup> Tats&auml;chlich d&uuml;rfte dieses Ph&auml;nomen einen Teil der beschriebenen Erfahrungen erkl&auml;ren, zumal bei fast der H&auml;lfte der Personen mit best&auml;tigten Nahtoderfahrungen auch &bdquo;REM intrusion&ldquo; vorlag. Die Autoren der Studie betonen jedoch, dass diese Assoziation noch nicht als kausaler Zusammenhang interpretiert werden d&uuml;rfe.</p></p> <p class="article-quelle">Quelle: 5. Kongress der European Academy of Neurology, 29. Juni bis 2. Juli 2019, Oslo </p> <p class="article-footer"> <a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a> <div class="collapse" id="collapseLiteratur"> <p><strong>1</strong> Petek B et al.: Statins, risk of death and stroke in patients with dementia - a registry-based study. Presented at the 5th Congress of International Neurology in Oslo, Norway; Abstract O3112 <strong>2</strong> Grytten N et al.: Cancer risk in multiple sclerosis patients, siblings, and healthy controls: a prospective, longitudinal cohort study. Presented at the 5th European Academy of Neurology (EAN) Congress in Oslo, Norway; Abstract O1204 <strong>3</strong> Kondiziella D et al.: Prevalence of near-death experiences in people with and without REM sleep intrusion. Presented at the 5th Congress of International Neurology in Oslo, Norway. Abstract EPO1083 <strong>4</strong> Nelson KR et al.: Does the arousal experience contribute to near death experience? Neurology 2006; 66(7); 1003-9</p> </div> </p>
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