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Warum muss Schmerzmedizin interdisziplinär sein?

<p class="article-intro">Die Behandlung chronischer Schmerzen stellt viele Therapeuten vor nahezu unlösbare Aufgaben. Die interdisziplinäre multimodale Schmerztherapie zeigt neue und aussichtsreiche Ansätze bei der Behandlung chronischer Schmerzbeschwerden. Diese beruht auf dem biopsychosozialen Schmerzmodell und löst die bisherige, vorwiegend somatisch orientierte Behandlung ab. Bei frühzeitigem Beginn dieser Therapie sind die Resultate vielsprechend und nachhaltig.</p> <p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>Schmerz ist das, was der Patient angibt, auch wenn der Nachweis eines pathologischen Befundes fehlt.</li> <li>Chronische Schmerzen m&uuml;ssen in einem biopsychosozialen Kontext gesehen und behandelt werden.</li> <li>Interdisziplin&auml;re multimodale Behandlungskonzepte sind bei Patienten mit chronischen Schmerzen aussichtsreicher als unimodale.</li> <li>Je fr&uuml;her eine interdisziplin&auml;re multimodale Therapie bei Betroffenen mit chronischen Schmerzen begonnen wird, desto besser sind die Therapieerfolge und die Nachhaltigkeit.</li> </ul> </div> <h2>Das biopsychosoziale Schmerzmodell</h2> <p>In der Vergangenheit war die Schmerzmedizin von einem mechanistischen Verst&auml;ndnis gepr&auml;gt. Die &Auml;tiologie der Beschwerden wurde vornehmlich auf somatischem Gebiet gesucht. Erst Mitte der Siebzigerjahre des letzten Jahrhunderts wurde von der Internationalen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes (IASP) eine Kommission gegr&uuml;ndet, welche eine Schmerzdefinition erstellt hat: &laquo;Schmerz ist ein unangenehmes Sinnesund Gef&uuml;hlserlebnis, das mit aktueller und potenzieller Gewebesch&auml;digung verkn&uuml;pft ist oder mit Begriffen einer solchen Sch&auml;digung beschrieben wird.&raquo;<sup>1</sup>Entsprechend dieser Definition ist Schmerz mehr als eine reine Sinnesempfindung, welche bei tats&auml;chlicher Gewebssch&auml;digung oder bei drohender Gewebssch&auml;digung auftreten kann. Das heisst, dass f&uuml;r das Schmerzerlebnis &uuml;berhaupt keine Gewebssch&auml;digung oder L&auml;sion vorhanden sein muss. Das individuelle https://dbi.universimed.com/index.php?r=article/update&amp;id=1000001709&amp;issue_id=1005Schmerzerleben jedes Menschen h&auml;ngt massgeblich von sensorischen, emotionalen und kognitiven Faktoren ab. Dabei spielen Erfahrungen aus der Kindheit, erlerntes schmerzbezogenes Verhalten wie Vermeidungs- und Stressreaktionen und die individuelle Bewertung eine wichtige Rolle. Viele dieser Faktoren (sogenannte &laquo;yellow flags&raquo;) unterst&uuml;tzen zudem die Entstehung von chronischen Schmerzen (Schmerzchronifizierung).<br />Eine weitere Definition der IASP besagt, dass chronische Schmerzen immer in einem biopsychosozialen Kontext beurteilt werden m&uuml;ssen.1 Die alleinige Erkl&auml;rung der Beschwerden anhand somatischer Befunde ist nicht ausreichend. Psychosoziale Faktoren sind h&auml;ufig die Gr&uuml;nde, warum chronische Schmerzen entstehen und warum diese so schwierig zu behandeln sein k&ouml;nnen.<sup>2</sup> Gerade im Bereich der Wirbels&auml;ulenchirurgie werden h&auml;ufig Operationen mit der Indikation &laquo;Chronischer Schmerz&raquo; durchgef&uuml;hrt. Dies f&uuml;hrt in einer Vielzahl der F&auml;lle zu anhaltenden Schmerzen auch nach der Operation bzw. nach den Operationen.<sup>3</sup> Hierf&uuml;r wurde eigens der Begriff des &laquo;failed back surgery syndrome&raquo; geschaffen.</p> <h2>Die interdisziplin&auml;re multimodale Schmerztherapie</h2> <p>Die Erkenntnisse aus den oben genannten Zusammenh&auml;ngen haben zu einem Wandel der Schmerzmedizin gef&uuml;hrt. Die Ergebnisse der Schmerzforschung zeigen, wie essenziell das ganzheitliche Verst&auml;ndnis dieser komplexen Wechselbeziehung aus biologischen, psychischen und sozialen Dimensionen ist. Das Verst&auml;ndnis, die Diagnostik und die Therapie dieser Wechselbeziehung erfordert ein Umdenken im Gesundheitswesen. Es m&uuml;ssen Strukturen geschaffen werden, die eine Zusammenarbeit verschiedener Fachbereiche und Professionen f&ouml;rdern und die Interaktion zwischen den beteiligten Therapeuten, mit dem Betroffenen zusammen, in den Mittelpunkt stellen. Die Bildung spezialisierter Zentren steht dabei an oberster Stelle und bildet die Voraussetzung f&uuml;r eine vernetzte und zielgerichtete Zusammenarbeit.<br /> Das interdisziplin&auml;re multimodale Therapieangebot bildet dabei die Kernkompetenz der Institution und ist wie folgt definiert: &laquo;Gleichzeitige, inhaltlich, zeitlich und in der Vorgehensweise aufeinander abgestimmte umfassende Behandlung von Patienten mit chronifizierten Schmerzsyndromen, in die verschiedene somatische, k&ouml;rperlich &uuml;bende, psychologisch &uuml;bende und psychotherapeutische Verfahren nach einem vorgegebenen Behandlungsplan mit identischem, unter den Therapeuten abgesprochenem Therapieziel eingebunden sind&raquo;.<sup>4</sup><br /> Die Teamarbeit und der vernetzte Denkund Arbeitsmodus ist eine der Grundvoraussetzungen f&uuml;r eine erfolgreiche und nachhaltige multimodale Schmerztherapie und muss von den Therapeuten und &Auml;rzten verinnerlicht und mit Wertsch&auml;tzung gegen&uuml;ber ihren Kollegen und Mitbehandlern gelebt werden. Es ist Aufgabe der Gesundheitspolitik, die Bildung schmerztherapeutischer Zentren zu forcieren und die Aus- und Weiterbildung der Therapeuten in fachlicher und interaktioneller Hinsicht zu f&ouml;rdern.<br />Ziele der interdisziplin&auml;ren multimodalen Behandlung im k&ouml;rperlichen Bereich sind die Steigerung von Fitness, Belastungskapazit&auml;t, Koordination und K&ouml;rperwahrnehmung. Die Patienten lernen, ihre pers&ouml;nlichen Belastungsgrenzen besser zu kontrollieren. Dabei stehen aktive &Uuml;bungen vor passiven Massnahmen (z. B. Massagen). Mit den psychotherapeutischen Verfahren wird versucht, die emotionale Beeintr&auml;chtigung zu verringern und das auf Ruhe und Schonung ausgerichtete Krankheitsverhalten sowie die Einstellungen und Bef&uuml;rchtungen in Bezug auf Aktivit&auml;t und Arbeitsf&auml;higkeit zu verbessern. Die Aufkl&auml;rung und die Edukation des Patienten sowie das Erkennen m&ouml;glicher psychosozialer und beruflicher Belastungen spielen dabei eine entscheidende Rolle. Konkrete und messbare Zielvereinbarungen zu Beginn der Therapie, die laufenden Anpassungen und die regelm&auml;ssigen &Uuml;berpr&uuml;fungen dienen den Patienten und Therapeuten als Leitfaden des Behandlungspfades.</p> <h2>Nachhaltigere Therapieergebnisse</h2> <p>Die Effizienz dieses Therapieverfahrens bei chronischen Schmerzerkrankungen ist in zahlreichen Studien belegt und zeigt, insbesondere in Hinblick auf die Nachhaltigkeit, eine h&ouml;here Evidenz als monodisziplin&auml;re Behandlungsans&auml;tze.<sup>5, 6</sup> Operative und andere interventionelle Massnahmen (z. B. wiederholte Infiltrationen) mit der alleinigen Indikation &laquo;Chronische Schmerzen&raquo; m&uuml;ssen kritisch hinterfragt werden. Mehrfache Interventionen ohne nachhaltigen therapeutischen Effekt k&ouml;nnen zu einer weiteren Chronifizierung der Schmerzerkrankung f&uuml;hren und erschweren die Schmerzakzeptanz unter den Betroffenen. Dies kann zu Behinderungen bei den weiteren therapeutischen Bem&uuml;hungen f&uuml;hren. Entscheidend f&uuml;r gute therapeutische Ergebnisse ist ein fr&uuml;hzeitiger interdisziplin&auml;rer multimodaler Behandlungsansatz. Je fr&uuml;her psychosoziale Aspekte in die Behandlung einbezogen werden, desto geringer die Gefahr einer zunehmenden Chronifizierung der Schmerzerkrankung und desto aussichtsreicher die Behandlung.</p></p> <p class="article-footer"> <a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a> <div class="collapse" id="collapseLiteratur"> <p><strong>1</strong> www.iasp-pain.org/terminology <strong>2</strong> Engel GL: Schmerz umfassend verstehen. Bern: Hans Huber, 2011<strong> 3</strong> Daniell JR, Osti OL: Asian Spine J 2018; 12(2): 372-9 <strong>4</strong> Arnold B et al.: Schmerz 2009; 23(2): 112-20<strong> 5</strong> Kaiser U et al.: Pain 2017; 158(10): 1853-9 <strong>6</strong> Wagner CJ et al.: Schmerz 2019; 33(2): 128-38</p> </div> </p>
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