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Aus der Sicht der Ärztin

Mangelnde Therapieadhärenz – Ursachen und Lösungsansätze

<p class="article-intro">Therapieadhärenz kann als Spiegel der psychischen bzw. der emotionalen Verfassung des Patienten betrachtet werden. Mangelnde Therapieadhärenz ist in der Regel nicht ein Versagen oder ein Nicht- Wollen des Patienten, sondern eine Koinzidenz von ungünstigen Faktoren, die von uns Ärzten erkannt werden muss.</p> <p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>Bei Patienten mit dauerhafter mangelhafter Erreichung der Therapieziele sollten wir an eine emotionale bzw. kognitive &Uuml;berforderung denken.</li> <li>Die psychologische und emotionale Belastung &ndash; der Diabetes Distress &ndash; ist behandelnden &Auml;rzten oft nicht bekannt und in Studien &bdquo;underreported&ldquo;.</li> <li>Eine gelungene Bew&auml;ltigung zeigt sich in der Akzeptanz der Diagnose und der Integration der Anforderungen im Zusammenhang mit dem Diabetes in das t&auml;gliche Leben.</li> <li>Der begleitende Arzt muss bereit sein, Kontrolle aufzugeben und diese an den Patienten zu delegieren.</li> <li>Empowerment bedeutet auch, dass der Patient selbst entscheidet, wann er den n&auml;chsten Schritt macht.</li> </ul> </div> <p>F&uuml;r viele Betroffene bedeutet die Diagnose Diabetes mellitus einen schwerwiegenden Einschnitt in die Lebensf&uuml;hrung und eine gro&szlig;e Belastung, vor allem in Hinblick auf die m&ouml;glichen Komplikationen und die erforderlichen Therapie- und Kontrollma&szlig;nahmen bei dieser chronischen Erkrankung. F&uuml;r die Vermeidung des Auftretens von akuten und chronischen Komplikationen des Diabetes mellitus ist die Einhaltung von bestimmten Regeln dauerhaft notwendig. Kommt es zur Vernachl&auml;ssigung dieser Regeln und damit zu einer reduzierten Therapieadh&auml;renz &uuml;ber einen l&auml;ngeren Zeitraum, sind nachhaltige Auswirkungen auf die Gesundheit zu erwarten. Mangelnde Therapieadh&auml;renz kann viele unterschiedliche Ursachen haben und in jedem Stadium des Diabetes auftreten (Tab. 1).</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2019_Jatros_Diabetes_1903_Weblinks_jatros_dia_1903_s39_tab1.jpg" alt="" width="550" height="366" /></p> <h2>Belastende Lebensereignisse</h2> <p>Schwerwiegende belastende Lebensereignisse bed&uuml;rfen einer tiefgehenden Auseinandersetzung, damit sie fr&uuml;her oder sp&auml;ter bew&auml;ltigt werden k&ouml;nnen. Je intensiver solche negativen Ereignisse erlebt werden und je h&auml;ufiger sie auftreten, desto schwieriger wird die Bew&auml;ltigung. Das ist auch nachvollziehbar. Man braucht sich nur die Koinzidenz des Todes eines nahen Angeh&ouml;rigen mit dem Verlust des Arbeitsplatzes und dem Auftreten einer Erkrankung vorzustellen. Wenn das Ma&szlig; voll ist, geht nichts mehr oder nur in kleinen Schritten und unter Aktivierung aller vorhandenen Ressourcen. Dass dann einmal der Diabetes auf der Strecke bleibt, ist nachvollziehbar. F&uuml;r uns &Auml;rzte geht es darum, dass wir davon erfahren und die betroffenen Menschen bestm&ouml;glich unterst&uuml;tzen und begleiten k&ouml;nnen. Wir wissen aus Studien, dass die Anzahl gleichzeitig auftretender belastender Lebensereignisse entscheidenden Einfluss auf die Therapieadh&auml;renz hat.</p> <h2>Diabetes Distress</h2> <p>Emotionale und kognitive &Uuml;berforderung durch die chronische Erkrankung Diabetes, die letztendlich zu verminderter Therapieadh&auml;renz f&uuml;hrt, ist eine ernsthafte und schwerwiegende Komplikation des Diabetes, die in jedem Stadium der Erkrankung auftreten kann. Der Begriff &bdquo;Diabetes Distress&ldquo; (DD) umschreibt solche Zustandsbilder, l&auml;sst sich jedoch nicht so einfach ins Deutsche &uuml;bertragen. Er bedeutet so viel wie &bdquo;psychische bzw. emotionale Belastung durch die Anforderungen des Diabetes mellitus, die je nach Auspr&auml;gung der emotionalen und kognitiven Bew&auml;ltigung der Erkrankung durch die betroffene Pers&ouml;nlichkeit individuell bewertet wird&ldquo;. DD umfasst Sorgen, Bedenken und &Auml;ngste, die mit einer chronischen, fordernden und progredienten Erkrankung wie Diabetes mellitus assoziiert sind.<sup>1</sup> Die Pr&auml;valenz liegt bei bis zu 40 %. Das Erkennen von DD gestaltet sich in der klinischen Praxis nicht immer einfach, da sich Diabetes Distress vordergr&uuml;ndig f&uuml;r den Behandler oft als mangelnde Therapieadh&auml;renz darstellt. Das bedeutet f&uuml;r die Praxis, dass bei Patienten mit dauerhafter mangelhafter Erreichung der Therapieziele in Richtung emotionale bzw. kognitive &Uuml;berforderung exploriert werden sollte. Ein empathischer Zugang ist wesentliche Voraussetzung, um mit den Betroffenen auf eine Beziehungsebene zu gelangen, die Emotionalit&auml;t zul&auml;sst.<br /> Obwohl Diabetes Distress mit schlechter metabolischer Kontrolle assoziiert ist, ist die individuelle psychologische und emotionale Belastung durch Diabetes den behandelnden &Auml;rzten h&auml;ufig nicht bekannt und in Studien &bdquo;underreported&ldquo;.<sup>2</sup></p> <h2>Nebenwirkungen von Medikamenten</h2> <p>Gewichtszunahme und Hypoglyk&auml;mien als Nebenwirkung von Medikamenten sind ebenfalls wichtige Gr&uuml;nde f&uuml;r mangelhafte Therapieadh&auml;renz. Sulfonylharnstoffe, Glinide und Insulin k&ouml;nnen f&uuml;r das Auftreten von Hypoglyk&auml;mien verantwortlich sein. Die Reduktion oder das Auslassen von Insulin durch den Patienten k&ouml;nnen im Alltag Folgeeffekte von Hypoglyk&auml;mien sein.<sup>3</sup> Auch &bdquo;Fehlmeinungen&ldquo; zu bestimmten Medikamenten beeinflussen die Therapieadh&auml;renz. &bdquo;Ich habe versagt, daher muss ich jetzt Insulin spritzen&ldquo; oder &bdquo;Insulin ist f&uuml;r das Endstadium des Diabetes&ldquo; sind Beispiele daf&uuml;r, sie sind f&uuml;r die Therapieadh&auml;renz nicht n&uuml;tzlich. Hier ist die weitere Aufkl&auml;rung des Patienten &uuml;ber die Medikamente und ihre Funktion in der Diabetestherapie durch den Arzt wichtig.</p> <h2>Psychische Erkrankungen</h2> <p>Psychische Erkrankungen f&uuml;hren bei Menschen mit Diabetes zu einer signifikanten Verschlechterung der Therapieadh&auml;renz, zu einem erh&ouml;hten Risiko f&uuml;r die Entwicklung von diabetischen Akut- und Sp&auml;tkomplikationen sowie zu einer gesteigerten Mortalit&auml;t. Insbesondere sind Depression, Angstst&ouml;rungen, Erkrankungen des schizophrenen Formenkreises und kognitive St&ouml;rungen h&auml;ufig komorbid mit Diabetes mellitus assoziiert.<sup>4</sup> Das Risiko f&uuml;r das Auftreten einer Depression ist bei Diabetes mellitus um das 2-Fache erh&ouml;ht im Vergleich zu einem nicht diabetischen Kollektiv. Als Ausdruck der bidirektionalen Beziehung stellt die Depression zudem einen Risikofaktor f&uuml;r die Entstehung eines Diabetes Typ 2 dar. Als Hypothese f&uuml;r die Entstehung gilt eine Dysregulation der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenachse, eine &Uuml;beraktivierung des sympathischen Nervensystems sowie des Immunsystems mit verst&auml;rkter Bildung proinflammatorischer Substanzen, wodurch eine Insulinresistenz, eine endotheliale Dysfunktion und die Entwicklung der Arteriosklerose beg&uuml;nstigt werden.</p> <h2>Schulungsinhalte ad&auml;quat transportieren</h2> <p>Transfer von medizinischem Wissen allein, wenn auch in vereinfachter Form, ist kein guter Motivator f&uuml;r Selbstmanagement. Vielmehr geht es um die &Uuml;bertragung von Verantwortung an den Patienten und das &Uuml;berlassen von Therapieentscheidungen. Daf&uuml;r sollte der Patient fit gemacht werden. Nat&uuml;rlich sind diese Prozesse davon abh&auml;ngig, ob wir &Auml;rzte dem Patienten die aus unserer Sicht &bdquo;richtigen&ldquo; Therapieentscheidungen zutrauen. Empowerment ist dabei ein wichtiges Thema, sollte aber vor Anwendung von den Nutzern ausreichend verstanden werden (s. u.).<br /> Nach der Diagnosestellung eines Diabetes mellitus sind Angeh&ouml;rige, obwohl sie durch die &bdquo;Mitbetroffenheit&ldquo; einem hohen psychosozialen Stress ausgesetzt sind, h&auml;ufig nicht systematisch in die Therapie integriert und haben somit zu wenig bis kein Wissen &uuml;ber die Erkrankung und deren Auswirkungen. Der erforderliche Wissenstransfer erfolgt fast ausschlie&szlig;lich von den Erkrankten selbst zu den Angeh&ouml;rigen oder &uuml;ber das Internet. Angeh&ouml;rige spielen jedoch eine Schl&uuml;sselrolle, wenn sie das Handeln der erkrankten Personen im Blick haben.<sup>5</sup></p> <h2>Arzt-Patienten-Beziehung &ndash; ein L&ouml;sungsansatz</h2> <p>Eine funktionierende Arzt-Patienten- Beziehung ist eine wichtige Basis f&uuml;r gegenseitiges Vertrauen und Akzeptanz des jeweils anderen. Kritische Aspekte dieser Beziehung sind:</p> <ul> <li>Zumindest beim Erstkontakt ist der Partner nicht freiwillig ausgesucht.</li> <li>Es besteht eine Asymmetrie bez&uuml;glich des Wissens &uuml;ber Diabetes.</li> <li>H&auml;ufig gibt es eine Perspektivendivergenz bei den Behandlungszielen.</li> </ul> <p>Beziehungen mit den genannten Eigenschaften w&uuml;rden von einem Soziologen als konfliktbeladen klassifiziert werden. Daher ist es f&uuml;r uns &Auml;rzte ganz wesentlich, die &bdquo;Patientenwelt&ldquo; genauer kennenzulernen und sich auf der Beziehungsebene auch auf die Emotionen des Patienten einzulassen. Emotionales Wohlbefinden wird auch im aktuellen Konsensuspapier der EASD und ADA als wichtiger Baustein f&uuml;r Therapieadh&auml;renz gesehen.<sup>6</sup><br /> Voraussetzungen f&uuml;r eine gute Therapieadh&auml;renz sind unter anderem Selbstwirksamkeit, ein stabiler positiver Selbstwert, eigene gute Bew&auml;ltigungsstrategien und soziale Unterst&uuml;tzung durch andere. Eine gelungene Bew&auml;ltigung spiegelt sich in der Akzeptanz der Diagnose, der Integration der Anforderungen des Diabetes in das t&auml;gliche Leben, wobei der Arbeitsplatz eine wesentliche Rolle einnimmt, und im Umgang mit der Progression der Erkrankung.</p> <h2>Empowerment &ndash; ein L&ouml;sungsansatz</h2> <p>Empowerment bedeutet, dass ein Schulungsprozess darauf abzielt, die F&auml;higkeit des kritischen Denkens und des autonomen Handelns in einer Person zu st&auml;rken, es handelt sich also um einen Prozess und sein Ergebnis. Empowerment bedeutet f&uuml;r den Patienten somit auch, Verantwortung zu &uuml;bernehmen und verantwortlich zu sein &ndash; f&uuml;r diesen Prozess braucht es eine Bereitschaft. Aber auch der begleitende Arzt muss bereit sein, Kontrolle aufzugeben und diese an den Patienten zu delegieren.<sup>7</sup><br /> Folgende Frage bewertet, inwieweit Empowerment vom Arzt tats&auml;chlich umgesetzt wird: &bdquo;Vermittle ich Informationen darüber, was die betroffenen Patienten wissen wollen, oder darüber, was sie meiner Meinung nach brauchen?&ldquo; Wenn der Patient ermutigt wird, &uuml;ber seine Bed&uuml;rfnisse zu sprechen und diese auch zu definieren, und wenn diese in das Behandlungskonzept eingebaut werden, ist das der richtige Weg. Die intrinsische Motivation, die im Patienten selbst entsteht (z. B: &bdquo;Gewicht reduzieren tut meinem K&ouml;rper gut und entlastet meine Gelenke sp&uuml;rbar&ldquo;) ist best&auml;ndig und der extrinsischen Motivation (z. B.: &bdquo;Mein Arzt sagt, dass Gewicht abnehmen f&uuml;r meinen Diabetes wichtig ist&ldquo;) signifikant &uuml;berlegen.<br /> Der Aufwand, eine chronische Erkrankung wie Diabetes mellitus zu managen, ist f&uuml;r den betroffenen Patienten enorm hoch und es ist schwierig, allen Anspr&uuml;chen gleichzeitig gerecht zu werden. Gewichtsmanagement, Essenskalkulationen, Insulin berechnen, Bewegungsprogramm umsetzen etc. &ndash; es sind viele B&auml;lle, die im Spiel sind. Empowerment bedeutet auch, dass der &bdquo;Jongleur&ldquo; selbst entscheidet, wann er den n&auml;chsten Ball dazunimmt. Dann ist er auch bereit daf&uuml;r. Wir &Auml;rzte &bdquo;schupfen&ldquo; allzu gerne ungefragt B&auml;lle dazu, weil wir &uuml;berzeugt sind, das ist jetzt das Beste f&uuml;r den Patienten.</p> <h2>Schlussbemerkungen</h2> <p>Therapieadh&auml;renz ist ein wichtiger Faktor f&uuml;r ein gutes Leben mit Diabetes mellitus. Reduzierte Therapieadh&auml;renz ist ein Signal und sollte in jedem Fall als solches wahrgenommen werden. Die Frage &bdquo;Ein Signal wof&uuml;r?&ldquo; wird uns &Auml;rzte in der Folge besch&auml;ftigen und zu einer ernsthaften Auseinandersetzung mit dem Patienten und seiner Welt f&uuml;hren.</p></p> <p class="article-footer"> <a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a> <div class="collapse" id="collapseLiteratur"> <p><strong>1</strong> Fisher L et al.: When is diabetes distress clinically meaningful? Establishing cut points for the Diabetes distress scale. Diabetes Care 2012; 35: 259-64 <strong>2</strong> Haugstvedt A et al.: Use of patient-reported outcome measures (PROMs) in clinical diabetes consultations: study protocol for the DiaPROM randomized controlled trial pilot study. BMJ Open 2019; 9(1): e024008 <strong>3</strong> Fisher L et al.: A practical framework for encouraging and supporting positive behaviour change in diabetes. Diabetic Med 2017; 34(12): 1658-66 <strong>4</strong> Abrahamian H et al.: Psychische Erkrankungen und Diabetes mellitus (Update 2019). Wien Klin Wochenschr 2019; 131(1): 186-95 <strong>5</strong> Richter R et al: Diabetes mellitus Typ-I: Bed&uuml;rfnisse und Auswirkungen auf das Alltagsleben aus der Sicht der Angeh&ouml;rigen. Heilberufe Science 2017; 8: 15-22 <strong>6</strong> Davies MJ et al.: Management of hyperglycaemia in type 2 diabetes, 2018. A consensus report by the American Diabetes Association (ADA) and the European Association for the Study of Diabetes (EASD). Diabetologia 2018; 61(12): 2461-98 <strong>7</strong> Anderson M, Funnell M; Patient empowerment: myths and misconceptions. Patient Educ Couns 2017; 79(3): 277-82</p> </div> </p>
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