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Klassifikation, Diagnostik und Therapie

Neuropathische Schmerzen

<p class="article-intro">Neuropathische Schmerzen sind gemäss Definition die direkte Folge einer Schädigung oder Erkrankung somatosensorischer Nervenstrukturen im peripheren oder zentralen Nervensystem. Die Diagnosestellung und insbesondere die Abgrenzung von neuropathischen zu nozizeptiven Schmerzen sind von grosser Bedeutung, nicht zuletzt weil sich die medikamentöse Behandlung von neuropathischen und nozizeptiven Schmerzen unterscheidet. Eine vollständige Schmerzfreiheit kann oft nicht erreicht werden. Ziele der Therapie sind die Reduktion auf ein akzeptables Schmerzlevel und die bestmögliche Erhaltung der Lebensqualität.</p> <p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>Neuropathische Schmerzen sind die direkte Folge einer Sch&auml;digung oder Erkrankung somatosensorischer Nervenstrukturen im peripheren oder zentralen Nervensystem.</li> <li>Meist kann die Diagnose mit gezielten Fragen, Frageb&ouml;gen und Bedside-Tests gestellt werden.</li> <li>Typisch f&uuml;r neuropathische Schmerzsyndrome ist das gleichzeitige Vorhandensein von Negativ- (z. B. Hyp&auml;sthesie) und Positivsymptomen (z. B. Allodynie).</li> <li>Neuropathische Schmerzen sind zerm&uuml;rbend und k&ouml;nnen die Lebensqualit&auml;t des Einzelnen in erheblichem Masse reduzieren, weswegen h&auml;ufig ein multimodales Therapiemanagement mit Ber&uuml;cksichtigung der biopsychosozialen Faktoren wichtig ist.</li> <li>Realistischerweise anzustrebende Therapieziele sind eine Schmerzreduktion von 30&ndash;50 %, die Verbesserung der Schlafqualit&auml;t, die Erhaltung der sozialen Aktivit&auml;ten und die Erhaltung der Arbeitsf&auml;higkeit.</li> <li>Medikament&ouml;se Therapieoptionen der ersten Wahl sind trizyklische Antidepressiva, selektive Serotonin-Noradrenalin- Wiederaufnahmehemmer, Gabapentin, Pregabalin und topisches Lidocain.</li> </ul> </div> <h2>Epidemiologie</h2> <p>Neuropathische Schmerzen stellen mit einer gesch&auml;tzten Pr&auml;valenz von 7&ndash;8 % und der Generierung von grossen volkswirtschaftlichen Kosten ein grosses gesundheitliches Problem dar. Nach Arthroseschmerzen sind neuropathische Schmerzen die zweitgr&ouml;sste Gruppe chronischer Schmerzen. Bei 40 % aller chronischen Schmerzpatienten kann zudem eine neuropathische Schmerzkomponente mitidentifiziert werden. Die h&auml;ufigste Ursache chronischer neuropathischer Schmerzen sind lumbale und zervikale Radikulopathien. M&auml;nner sind h&auml;ufiger betroffen als Frauen, und die Pr&auml;valenz steigt mit zunehmendem Alter an. Insgesamt nahm die Pr&auml;valenz von neuropathischen Schmerzen in den letzten Jahren zu, wahrscheinlich aufgrund der zunehmend &auml;lter werdenden Bev&ouml;lkerung, der steigenden Inzidenz von Diabetes mellitus und des l&auml;ngeren &Uuml;berlebens von Tumorerkrankten nach Chemotherapie. Chronische neuropathische Schmerzen haben einen erheblichen negativen Einfluss auf die Lebensqualit&auml;t und k&ouml;nnen zur physischen, psychischen und sozialen Isolation f&uuml;hren. Die Therapie ist anspruchsvoll und h&auml;ufig auch frustrierend, wohlgemerkt sowohl f&uuml;r den Arzt als auch f&uuml;r den Patienten. Chronische Schmerzen stellen zudem eine grosse gesundheits&ouml;konomische Belastung dar. In Amerika verursachen chronische neuropathische Schmerzen volkswirtschaftliche Kosten von mehr als 100 Milliarden US-Dollar j&auml;hrlich.</p> <h2>Einteilung und Pathophysiologie</h2> <p>Das neuropathische Schmerzsyndrom ist ein &Uuml;berbegriff, wobei eine Vielzahl von Diagnosen zu neuropathischen Schmerzen f&uuml;hren kann. Je nach Betrachtungsweise kann das neuropathische Schmerzsyndrom nach der &Auml;tiologie, nach der Lokalisation der Nervensch&auml;digung oder nach dem zugrunde liegenden pathophysiologischen Mechanismus eingeteilt werden. Neuropathische L&auml;sionen k&ouml;nnen durch mechanische Traumata, durch metabolische Krankheiten, durch Einwirkung von Neurotoxinen, Infektionen oder durch Tumorinvasion entstehen. In Tabelle 1 sind die h&auml;ufigsten neuropathischen Schmerzsyndrome aufgef&uuml;hrt. Die pathophysiologischen Grundlagen sind komplex und beinhalten sowohl periphere als auch zentrale Prozesse. H&auml;ufige Mechanismen sind die Spontanaktivit&auml;t, zur&uuml;ckzuf&uuml;hren auf die Generierung ektoper Aktionspotenziale, die periphere Sensibilisierung, zur&uuml;ckzuf&uuml;hren auf abnorm niedrige Schwellenpotenziale innerhalb des nozizeptiven Systems, sowie die zentrale Sensibilisierung, zur&uuml;ckzuf&uuml;hren auf den Verlust von synaptischen Bindungen mit Formation neuer synaptischer Kreise (Plastizit&auml;t). An Chronifizierungsprozessen, wie sie bei neuropathischen Schmerzen h&auml;ufig vorkommen, sind zudem multiple physiologische, psychologische und soziale Kofaktoren mitbeteiligt.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2019_Leading Opinions_Neuro_1902_Weblinks_lo_neuro_1902_s15_tab1.jpg" alt="" width="600" height="526" /></p> <h2>Diagnostik</h2> <p>Durch eine gute und zielf&uuml;hrende Anamnese kann in einem ersten Schritt bereits unterschieden werden, ob der Schmerz m&ouml;glicherweise neuropathisch ist oder ob dies unwahrscheinlich ist. F&uuml;r neuropathische Schmerzen sprechen in erster Linie die Ausbreitung des Schmerzes in einer anatomisch mit einer L&auml;sion des Nervensystems zu vereinbarenden Region sowie das f&uuml;r neuropathische Schmerzen typische Auftreten von Negativ- und Positivsymptomen (wie z. B. Hyp&auml;sthesie, Hypalgesie, Par&auml;sthesie, Hyperalgesie und/ oder Allodynie im betroffenen Schmerzgebiet). Der &laquo;Pain detect&raquo;-Fragebogen (www. pain-detect.de) ist ein Instrument, das vom Patienten rasch ausgef&uuml;llt werden kann und ein Screening auf das Vorliegen neuropathischer Schmerzen erlaubt. Seine Sensitivit&auml;t und Spezifit&auml;t liegen bei &uuml;ber 80 %. Durch die klinische Untersuchung kann ein Verdacht erh&auml;rtet werden. Hierzu geh&ouml;ren g&auml;ngige Bedside- Tests wie z. B. Vibrationssinn, VonFrey-Haar, Allodynietestung, welche die einzelnen Symptome mit einer hohen Sensitivit&auml;t und Spezifit&auml;t nachweisen k&ouml;nnen. Bei Unsicherheiten kann die Diagnose falls n&ouml;tig durch Zusatzuntersuchungen wie neurophysiologische Untersuchungen (Elektroneuromyografie), quantitative sensorische Testung (QST) oder Haut- oder Nervenbiopsien best&auml;tigt werden.</p> <h2>Therapeutische Optionen</h2> <p>Falls m&ouml;glich, sollte die zugrunde liegende Ursache erkannt und behandelt werden. Meist geht es beim Management von neuropathischen Schmerzen jedoch um Symptomlinderung, da selten eine Symptomfreiheit als Therapieziel definiert werden kann. So f&uuml;hrt zum Beispiel eine gute Blutzuckereinstellung bei der diabetischen Polyneuropathie nur selten zu einer suffizienten Schmerzlinderung. Realistische Therapieziele sind eine Schmerzreduktion von 30 bis 50 %, eine Verbesserung der Schlaf- und Lebensqualit&auml;t, die Erhaltung der sozialen Aktivit&auml;ten und die Erhaltung oder Wiedererlangung der Arbeitsf&auml;higkeit. H&auml;ufig ist ein multimodales Therapiemanagement erforderlich, neben medikament&ouml;sen Massnahmen sollen fr&uuml;hzeitig auch nichtpharmakologische Therapien und unter Umst&auml;nden auch interventionelle Massnahmen (Infiltrationen, Neuromodulation) erwogen werden. F&uuml;r aktualisierte, evidenzbasierte Therapieempfehlungen sei auf die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft f&uuml;r Neurologie (www.dgn.org), der American Academy of Neurology (www. aan.com) sowie des National Institute of Health and Clinical Excellence (www.nice. org.uk) hingewiesen. Im Folgenden gehen wir in K&uuml;rze auf die einzelnen Medikamentenklassen ein.</p> <p><strong>Antikonvulsiva</strong><br /> Gabapentin und Pregabalin sind neben trizyklischen Antidepressiva und Serotonin- Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmern Therapie der ersten Wahl. Sie konnten in placebokontrollierten Studien eine gute Effektivit&auml;t bei der diabetischen Polyneuropathie, der postherpetischen Neuralgie, dem &laquo;mixed pain syndrome&raquo;, bei zentralen Schmerzsyndromen, traumatischen Nervenl&auml;sionen sowie bei Phantomschmerzen zeigen. Die Wirkung wird wahrscheinlich &uuml;ber eine Reduktion der zentralen Sensibilisierung durch Bindung an die Alpha2- Ro-Untereinheit der spannungsabh&auml;ngigen Kalziumkan&auml;le vermittelt. Lamotrigin hat in neueren Metaanalysen nur einen eingeschr&auml;nkten Effekt bei der Behandlung der diabetischen Neuropathie und der HIV-Neuropathie. Der Einsatz beschr&auml;nkt sich aktuell auf die Behandlung von zentralen Schmerzen (nach Schlaganfall). Die Rolle von Valproat und Phenytoin ist unklar. Carbamazepin und Oxcarbazepin sind Medikamente der ersten Wahl in der Behandlung der Trigeminusneuralgie.</p> <p><strong>Antidepressiva</strong><br /> Bei den Antidepressiva konnten die trizyklischen Antidepressiva (Amitriptylin, Clomipramin und Imipramin) und der SNRI Duloxetin eine gute Evidenzlage f&uuml;r die Wirksamkeit bei der Behandlung von neuropathischen Schmerzen nachweisen. Die Wirkung wird wahrscheinlich &uuml;ber die Aktivierung des deszendierenden schmerzhemmenden Systems vermittelt. F&uuml;r die SSRI wiederum konnte nur ein limitierter Effekt nachgewiesen werden, sie werden deshalb nicht prim&auml;r empfohlen.</p> <p><strong>Opioide</strong><br /> Insgesamt haben Opioide bei neuropathischen Schmerzen eine schwache Evidenz, sie gelten nicht als Erstlinientherapie. Tramadol wird aufgrund der zus&auml;tzlichen Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahme- hemmenden Wirkung den starken Opioiden vorgezogen, insbesondere bei peripheren neuropathischen Schmerzen konnte eine Effektivit&auml;t nachgewiesen werden. Starke Opioide sind nicht prim&auml;r empfohlen, eine Therapie damit ist aufgrund unzureichender Datenlage als individueller Therapieversuch anzusehen. Sollte es nach einer Testphase von 4 bis 12 Wochen zu einer klinisch relevanten Reduktion von Schmerzen und/oder k&ouml;rperlichem Beeintr&auml;chtigungserleben bei fehlenden oder geringen Nebenwirkungen kommen, so k&ouml;nnen Opioide auch als Langzeittherapie angeboten werden. Kombinationstherapien zwischen zwei oder mehreren Medikamentenklassen sind in der klinischen Praxis h&auml;ufig, es bestehen jedoch nur wenige klinische Studien. Die Kombination von Morphin und Gabapentin sowie die Kombination von Pregabalin und Duloxetin waren der jeweiligen Monotherapie &uuml;berlegen.</p> <p><strong>Cannabinoide</strong><br /> Die Effektivit&auml;t von Cannabinoiden bei der Behandlung von neuropathischen Schmerzen wird weiterhin kontrovers diskutiert, nicht zuletzt aufgrund der widerspr&uuml;chlichen Datenlage sowie aufgrund der psychotropen Nebenwirkung, insbesondere bei h&ouml;heren Dosierungen. Cannabinoide k&ouml;nnen somit bei therapierefrakt&auml;ren Schmerzen allenfalls als individueller Therapieversuch (&laquo;compassionate use&raquo;) probiert werden. Sie bed&uuml;rfen in der Schweiz einer Bewilligung durch das Bundesamt f&uuml;r Gesundheit (BAG).</p> <p><strong>Topische Anwendungen</strong><br /> Topisches Lidocain (5 %) hat sich vor allem in der Behandlung der postherpetischen Neuralgie und anderer fokaler Neuropathien etablieren k&ouml;nnen. Der grosse Vorteil sind das Fehlen systemischer Nebenwirkungen und die hohe lokale Wirksamkeit. W&auml;hrend f&uuml;r Capsaicinpflaster mit schwacher Konzentration bisher keine Wirksamkeit nachgewiesen werden konnte, wurde diese bei hochkonzentrierten Capsaicinpatches (8 %) in der HIV-Neuropathie und in der postherpetischen Neuralgie gezeigt.</p> <p><strong>Nichtmedikament&ouml;se Massnahmen</strong><br /> Aufgrund des zerm&uuml;rbenden Charakters der Schmerzen, der Einfluss auf s&auml;mtliche Lebensbereiche der Betroffenen haben kann, ist ein fr&uuml;hzeitiger multimodaler Therapieansatz mit Integration von psychologischen und physikalischen Massnahmen sowie besonderem Augenmerk auf die sozialen Aspekte des Patienten von eminenter Bedeutung. Psychotherapie, zum Beispiel im Sinne einer kognitiven Verhaltenstherapie (&laquo;Copingstrategien&raquo;), physikalische Massnahmen wie warme Fussb&auml;der, milde Infrarotstrahlung, Applikation von K&auml;lte, transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS) oder Akupunktur k&ouml;nnen hilfreich sein. Eindeutige Empfehlungen f&uuml;r eine spezifische Therapiemodalit&auml;t k&ouml;nnen wegen der schwachen Datenlage der einzelnen Methoden aktuell nicht abgegeben werden.</p> <p><strong>Interventionelle Verfahren</strong><br /> Selektive Nervenblockaden (z. B. die epidurale Steroidinfiltration bei lumbalen oder zervikalen Radikulopathien sowie bei akuten Herpes-Radikulopathien), Ganglionblockaden, die bei der Behandlung des CRPS eine schwache Evidenz haben, sowie periphere und zentrale Neuromodulationsverfahren (z. B. die periphere Nervenstimulation, die DRG-Stimulation oder die epidurale R&uuml;ckenmarkstimulation) sind bei selektionierten Patienten eine alternative Therapiestrategie. Insbesondere ist darauf zu achten, dass in Anbetracht von Nutzen und Risiko die invasiveren und irreversiblen (z. B. neurodestruktiven) Methoden an letzter Stelle stehen.</p> <h2>Ausblick</h2> <p>Mehrere klinische Studien unterst&uuml;tzen die Hypothese, dass eine Einteilung in neuropathische Ph&auml;notypen die Therapieentscheidungen leiten kann. So kann zum Beispiel das Vorhandensein einer mechanischen Allodynie die Wirksamkeit von Natriumkanalblockern oder eine funktionell gest&ouml;rte konditionelle Schmerzmodulation die Wirksamkeit von Duloxetin vorhersagen.</p> <ul> <li>www.pain.ch</li> <li>www.pathways.nice.org.uk/pathways/ neuropathic-pain</li> <li>www.dgn.org/leitlinien-online-2012/inhaltenach- kapitel/2369-ll-61-2012-diagnostikneuropathischer- schmerzen.html</li> <li>www.dgn.org/leitlinien-online-2012/inhaltenach- kapitel/2373-ll62-2012-pharmakologischnicht- interventionelle-therapiechronischneuropathischer- schmerzen.html</li> <li>www.neurology.org/content/76/20/1758. full?sid=279eae73-9b0a-4b39-b138- 88a6ca81ead3</li> </ul></p> <p class="article-footer"> <a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a> <div class="collapse" id="collapseLiteratur"> <p>bei den Verfassern</p> </div> </p>
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