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Iliosakrale Dysfunktion: Den meisten hilft eine konservative Therapie

<p class="article-intro">Bei Rückenschmerzen sollte man immer auch an eine iliosakrale Dysfunktion denken. Ist die Diagnose gestellt, fragen Patienten besorgt, ob sie sich operieren lassen müssen – schliesslich heisst es im Internet, eine konservative Therapie helfe nur vorübergehend. Doch mit der richtigen Strategie bekommt man bei den meisten Patienten die Schmerzen mit einer konservativen Therapie in den Griff.</p> <hr /> <p class="article-content"><p>Zur operativen Behandlung einer iliosakralen Dysfunktion sind in den letzten Jahren immer mehr Produkte f&uuml;r minimal invasive Techniken auf den Markt gekommen. Manche sollen besser sein als andere, doch die Studien sind meist von den Herstellern gesponsert und damit sind finanzielle Interessen nicht auszuschliessen. &laquo;Es wird oft suggeriert, man m&uuml;sse rasch operieren&raquo;, sagt Prof. Dr. med. J&uuml;rgen Harms, Facharzt f&uuml;r Orthop&auml;die und Unfallchirurgie am Ethianum in Heidelberg. &laquo;Eine Operation ist aber die Ultima Ratio. Bei den meisten Patienten bekommt man die Schmerzen ohne Operation in den Griff.&raquo;</p> <h2>Pl&ouml;tzliche Blockade</h2> <p>Bei Patienten mit R&uuml;ckenschmerzen soll in 15&ndash;30 % das Iliosakralgelenk (ISG) dahinterstecken.<sup>1&ndash;4</sup> Das ISG &uuml;bertr&auml;gt das Gewicht von der Wirbels&auml;ule auf die unteren Extremit&auml;ten. B&auml;nder um das Gelenk stabilisieren es und organisieren den Bewegungsablauf. Dies hat vor allem praktische Bedeutung bei Frauen bei der Geburt, wenn der Kopf des Kindes durch das Becken tritt. Eine Geburt ist deshalb auch eine der Ursachen f&uuml;r eine iliosakrale Dysfunktion, also ein schmerzhaftes ISG. &laquo;Das Gelenk bewegt sich normalerweise nur wenige Millimeter&raquo;, sagt Prof. Dr. med. Lorin Benneker, Teamleiter Wirbels&auml;ulenchirurgie am Inselspital Bern. &laquo;Wird es zu beweglich, zum Beispiel wenn gegen Ende der Schwangerschaft die kräftigen Bänder um das Gelenk elastischer werden, um dem Baby die Geburt zu erleichtern, verursacht das bei manchen Frauen Schmerzen.&raquo; Halten diese an, kommt es zu einer Entz&uuml;ndungsreaktion und in der Folge verspannen sich die Muskeln im Becken- und Lendenbereich. &laquo;In der Regel verschwinden die Schmerzen nach der Geburt wieder&raquo;, sagt Benneker. &laquo;Aber in anderen F&auml;llen werden sie chronisch.&raquo;<br /> Eine Instabilit&auml;t des Gelenkes kann zu chronischen Schmerzen f&uuml;hren. Neben der Geburt eines Kindes gibt es viele weitere Ursachen f&uuml;r eine Instabilit&auml;t des Iliosakralgelenkes: Infekte, ein Trauma, einseitige Belastung bei Beinl&auml;ngendifferenz, Beckenasymmetrie, spinale Deformit&auml;ten oder die Verwendung von Gehhilfen, etwa nach einer Operation an einem Bein. Bei manchen Patienten kommt es auf einmal zu einer Blockade: Erst ist das Gelenk zu beweglich, dann verharrt es plötzlich in einer Stellung. Auch Fehlbelastungen bei bestimmten Sportarten k&ouml;nnen zu einer iliosakralen Dysfunktion f&uuml;hren, ebenso rheumatische Erkrankungen mit schmerzhafter Entz&uuml;ndung des Gelenkes wie Morbus Bechterew, Morbus Forestier, rheumatoide Arthritis, Reiter-Arthritis oder Psoriasisarthritis. &laquo;Bei diesen Patienten versteift sich das Gelenk oft spontan und die Schmerzen lassen nach einiger Zeit wieder nach&raquo;, so Benneker. Ab und zu wird eine iliosakrale Dysfunktion auch nach Infektionen bei immungeschw&auml;chten oder drogenabh&auml;ngigen Patienten beobachtet. Es kommt zu einer bakteriellen Infektion im Gelenk mit Destruktion von Knorpel und Knochen, und als Folge kann das Gelenk instabil und schmerzhaft werden.<br /> &laquo;Orthop&auml;den sollten diese doch recht h&auml;ufige Ursache f&uuml;r R&uuml;ckenschmerzen kennen und explizit danach suchen&raquo;, sagt Benneker. Nur so k&ouml;nne man die richtige Therapie einleiten und weitere Schmerzen vermeiden. &laquo;Hat der Patient zum Beispiel gleichzeitig eine Pathologie an der Wirbels&auml;ule, und man versteift Lendenwirbelgelenke, wird das Iliosakralgelenk mehr belastet und der Patient hat noch mehr Schmerzen.&raquo;<br /> Die Schmerzen werden typischerweise durch bestimmte Positionen und Bewegungen ausgel&ouml;st. &laquo;In der Fr&uuml;hphase kann der Patient die Schmerzen genau zwischen Wirbelsäule und Beckenkamm lokalisieren &raquo;, sagt Benneker. Später weitet sich der Schmerz auf das ganze Kreuz und das Ges&auml;ss aus. In drei von vier F&auml;llen treten die Schmerzen nur auf einer Seite auf und strahlen kranial bis zum 5. Lendenwirbel aus.<sup>5</sup> Differenzialdiagnostisch m&uuml;ssen diverse andere Erkrankungen ausgeschlossen werden: Coxarthrose, myofasziale Beschwerden, Spondylolisthesis, Facettengelenkssyndrom, Insuffizienzfrakturen des Os sacrum bei Osteoporose oder Diskushernien sind nur einige davon.<sup>6</sup></p> <h2>&laquo;Keine knallharten diagnostischen Kriterien&raquo;</h2> <p>Die Diagnostik ist mitunter eine Herausforderung. &laquo;Man muss sich Zeit f&uuml;r die Anamnese nehmen und gezielt nachfragen &raquo;, sagt Benneker. &laquo;Dann erz&auml;hlen die Patienten, dass die Schmerzen beim l&auml;ngeren Sitzen oder Stehen schlimmer werden, und wenn sie sich im Bett umdrehen oder aus dem Auto steigen.&raquo; Klinische Provokationstests k&ouml;nnen weitere Hinweise liefern, etwa der PSIS-Distraktionstest, der Yeoman-, Thigh-Thrust-, POSH-, Gaenslen-, FABER- oder der Gillet-Test. Welcher Test die h&ouml;chste Sensitivit&auml;t und Spezifit&auml;t aufweist, ist unklar, auch h&auml;ngt dies vom Untersucher ab. Zur Sicherung der Diagnose sollten mindestens 3 von 5 Provokationsmanövern positiv ausfallen. &laquo;Es gibt keine knallharten diagnostischen Kriterien&raquo;, sagt Prof. Harms. &laquo;Das ISG ist bei vielen Wirbels&auml;ulenproblemen mitbeteiligt und man weiss manchmal auf Anhieb nicht, ob die Schmerzen vornehmlich durch das Gelenk oder durch die Wirbels&auml;ule bedingt sind.&raquo;<br /> Bildgebende Verfahren sind wenig aussagekr&auml;ftig, k&ouml;nnen aber dazu beitragen, pathologische Veränderungen in der Nachbarschaft des Gelenkes auszuschliessen. So k&ouml;nnen etwa entz&uuml;ndliche Prozesse oder Neoplasien mittels MRT ausgeschlossen werden. Die zuverl&auml;ssigste Untersuchung zur Diagnose einer iliosakralen Dysfunktion ist die intraartikul&auml;re Testinjektion eines Lokalan&auml;sthetikums unter R&ouml;ntgenoder CT-Kontrolle. Eine positive Infiltration ist dadurch definiert, dass der Schmerz um mindestens drei Viertel abnimmt. &laquo;Das ist im Alltag aber schwierig zu objektivieren&raquo;, sagt Harms. &laquo;Erz&auml;hlt mir der Patient, nach der Injektion ging es ihm f&uuml;r einige Stunden besser, ist das ein guter Hinweis auf eine erfolgreiche Infiltration.&raquo;<br /> Den Patienten kann man dann beruhigen: &laquo;Die meisten bekommen ihre Beschwerden mithilfe von Chiropraktik oder Physiotherapie langfristig in den Griff&raquo;, sagt Benneker. &laquo;Andere ben&ouml;tigen ein bis zwei Infiltrationen pro Jahr.&raquo; Gegen die Schmerzen verschreibt man zun&auml;chst nichtsteroidale Antiphlogistika, zus&auml;tzlich helfen gelegentliche Infiltrationen mit Lokalan&auml;sthetikum plus Steroiden. Erst wenn diese Massnahmen nicht mehr n&uuml;tzen, ist eine Operation in Betracht zu ziehen. Orthop&auml;de Harms spricht erstmals eine Operation an, wenn der Patient nach 6 bis 9 Monaten trotz Physiotherapie und 3&ndash;4 Infiltrationen immer noch Schmerzen hat. Vor der Operation sei absolut zwingend, vorher durch Testinfiltrationen zweifelsfrei zu beweisen, dass das Kreuzgelenk f&uuml;r die Schmerzen verantwortlich ist, sagt Benneker. Eine klare Operationsindikation sieht der Orthop&auml;de bei Patienten mit Pseudarthrose im ISG oder postinfekti&ouml;ser Destruktion des Gelenkes. Eine Kontraindikation liegt bei Osteoporose oder Tumoren im Gelenksbereich vor.</p> <h2>Welche OP-Technik ist die beste?</h2> <p>Operiert wird bei iliosakraler Dysfunktion bereits seit Anfang des 20. Jahrhunderts. Die offene Operation war damals allerdings eine Herausforderung: Man ben&ouml;tigte einen grossen Schnitt, um zum Gelenk zu gelangen, die Patienten hatten lange Rekonvaleszenzzeiten und ein hohes Risiko f&uuml;r Komplikationen.<sup>7</sup> Das hat sich mit minimal invasiven M&ouml;glichkeiten ge&auml;ndert. Bei der Operation wird die Rotations- Translations-Stabilität im ISG wiederhergestellt, indem man die beiden Gelenkfl&auml;chen &uuml;berbr&uuml;ckt. &laquo;Beide Techniken, offen und minimal invasiv, funktionieren recht gut, weisen aber ein unterschiedliches Komplikationspotenzial auf&raquo;, sagt Benneker. Offene Eingriffe k&ouml;nnen von vorne oder von hinten durchgef&uuml;hrt werden, wobei bei den hinteren Eingriffen das Implantat st&ouml;ren kann, etwa wenn der Patient auf harter Unterlage auf dem R&uuml;cken schl&auml;ft. &laquo;Nat&uuml;rlich sind die offenen Eingriffe schmerzhafter und f&uuml;hren zu mehr Blutverlust und einem l&auml;ngeren Spitalaufenthalt &raquo;, so Benneker. &laquo;Daf&uuml;r sind die Implantate g&uuml;nstiger und eine allf&auml;llige Revision &ndash; etwa bei einer Infektion &ndash; ist einfacher und weniger destruktiv.&raquo; Minimal invasive Eingriffe erm&ouml;glichen eine raschere Rehabilitation. Ist eine Revision erforderlich, etwa wegen Schraubenlockerung oder Infektion, ist das nach der minimal invasiven Operation aber oft aufwendiger.<br /> Es gibt noch nicht genügend gute Studien, um sagen zu können, welche der beiden Techniken besser ist. &laquo;Meiner Meinung nach &uuml;berwiegen die Vorteile der minimal invasiven Operation&raquo;, sagt Benneker. &laquo;Die Patienten sind schneller wieder fit, und es treten weniger Komplikationen auf.&raquo; Auch J&uuml;rgen Harms bevorzugt das minimal invasive Vorgehen: &laquo;Wenn man vorher sauber diagnostiziert hat, sieht man schon am Abend nach der Operation eine deutliche Besserung.&raquo; Nach zwei Tagen k&ouml;nnen die meisten Patienten nach Hause entlassen werden.<br /> Unklar ist aber noch, welche der zahlreichen auf dem Markt befindlichen Implantate am besten sind. &laquo;Alle Hersteller behaupten, ihr Produkt erlaube eine erfolgreiche Versteifung&raquo;, sagt Benneker. &laquo;Die Implantate sind aber relativ neu, sodass Langzeitergebnisse sowie gr&ouml;ssere und vor allem unabh&auml;ngige Studien fehlen.&raquo; Die meisten Untersuchungen liegen zur iFuse-Technik vor, bei der 3 dreieckige Bolzen das Gelenk &uuml;berbr&uuml;cken; die Implantate sind beschichtet, damit der umgebende Knochen schnell anw&auml;chst und eine dauerhafte Stabilisierung eintritt.<br /> Eine Alternative zur Operation ist die Thermoablation oder Rhizotomie. Dabei werden die feinen Schmerzfasern zuerst betäubt und dann mit einer Hitze- oder Kältesonde ver&ouml;det. &laquo;Die Nerven können sich aber innerhalb eines Jahres erholen und die Schmerzen k&ouml;nnen zur&uuml;ckkehren. &raquo; Beide Orthop&auml;den raten trotzdem immer erst zu einer Verödung, bevor sie operieren. Erst wenn die Beschwerden weiter anhalten, diskutieren sie mit dem Patienten eine chirurgische Versteifung.<br /> Eine gute &Uuml;bersicht &uuml;ber die Behandlungsverfahren haben k&uuml;rzlich Forscher aus Pittsburgh zusammengestellt.<sup>8</sup> Ihr Fazit zur Operation: Obwohl beide Techniken zufriedenstellende Ergebnisse liefern, sei das aufkeimende Interesse an Diagnose und Behandlung von ISG-Problemen zum Teil gef&ouml;rdert von industriellen Interessen. Die Autoren raten zu einem &laquo;f&uuml;rsorglichen patientenzentrierten Ansatz&raquo;.<br /> Habe man den Verdacht auf eine iliosakrale Dysfunktion, solle man sich viel Zeit nehmen und die richtigen Fragen stellen, um zur Diagnose zu kommen, sagt Benneker: &laquo;Die Schmerzen sind f&uuml;r den Patienten zwar lästig, aber kein Notfall, der dringend operiert werden muss.&raquo;</p></p> <p class="article-footer"> <a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a> <div class="collapse" id="collapseLiteratur"> <p><strong>1</strong> Schwarzer AC et al.: Spine 1995; 20: 31-7 <strong>2</strong> Bernard TN Jr, Kirkaldy-Willis WH: Clin Orthop Relat Res 1987; 217: 266- 80 <strong>3</strong> Maigne JY et al.: Spine 1996; 21: 1889-92<strong> 4</strong> Sembrano JN, Polly DW Jr: Spine 2009; 34: E27-E32 <strong>5</strong> Slipman CW et al.: Pain Physician 2001; 4: 143-52 <strong>6</strong> Foley BS, Buschbacher RM: Am J Phys Med Rehabil 2006; 85: 997- 1006 <strong>7</strong> Rashbaum RF et al.: Clin Spine Surg 2016; 29: 42- 48 <strong>8</strong> Schmidt GL et al.: J Am Acad Orthop Surg 2018; 26: 610-6</p> </div> </p>
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