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Suizide bei Senioren: häufig, aber zu wenig beachtet

<p class="article-intro">Ist es das Gefühl von Einsamkeit? Chronische Schmerzen oder die Erkenntnis, an einer chronischen Krankheit zu leiden? Immer mehr Menschen begehen in der Schweiz Suizid, insbesondere Ältere. Wie man Frühzeichen bei Senioren erkennt und rechtzeitig interveniert, erklärt Prof. Dr. med. Gabriela Stoppe, Präsidentin von Ipsilon, der Dachorganisation zur Suizidprävention in der Schweiz.</p> <p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>Suizid ist eine der h&auml;ufigen Todesursachen bei &Auml;lteren.</li> <li>Besonders gef&auml;hrdet sind alleinstehende (verwitwete) M&auml;nner, polymorbide und depressive Menschen.</li> <li>In der Woche vor einem Suizid suchen Betroffene oft den Hausarzt auf.</li> <li>Depressionen als eine der wichtigsten Ursachen f&uuml;r Suizid werden im Alter oft nicht diagnostiziert und nicht korrekt behandelt.</li> <li>&Auml;ltere Menschen und vor allem M&auml;nner klagen seltener &uuml;ber depressive Symptome, sondern eher &uuml;ber unspezifische &laquo;somatische &raquo; Beschwerden.</li> <li>Depression ist keine &laquo;normale Alterserscheinung&raquo;, sondern eine behandlungsf&auml;hige St&ouml;rung.</li> <li>H&auml;ufiger Fehler: Weil man &laquo;versteht &raquo;, dass jemand depressiv ist, behandelt man die Depression nicht.</li> <li>Als Screening f&uuml;r eine Depression im Alter hat sich die &laquo;Geriatric Depression Scale&raquo; (GDS) bew&auml;hrt. Als erstes Screening eignet sich der Zwei-Fragen-Test.</li> </ul> </div> <p>Vor ein paar Jahren habe sich noch kaum jemand f&uuml;r das Thema Suizid bei Senioren interessiert, erz&auml;hlte Prof. Dr. med. Gabriela Stoppe auf dem letzten Europ&auml;ischen Kongress f&uuml;r Psychiatrie in Nizza. Stoppe ist Pr&auml;sidentin der Dachorganisation zur Verhinderung von Suiziden in der Schweiz und Psychiaterin in Basel: &laquo;Jetzt werden sich gl&uuml;cklicherweise immer mehr Kollegen bewusst, dass das ein Problem ist. Aber noch fehlt es an ausreichenden Pr&auml;ventionsmassnahmen und einem Bewusstein in der Bev&ouml;lkerung.&raquo;<br /> Ein besonderes Problem ist die steigende Anzahl assistierter Suizide. Das Bundesamt f&uuml;r Statistik hat im Jahr 2014 in der Schweiz 742 assistierte Suizide erfasst, was 1,2 % aller Todesf&auml;lle entspricht. Die Zahlen steigen und eine Trendwende ist nicht abzusehen (Abb. 1). 2014 begingen 26 % mehr Menschen als im Vorjahr assistierten Suizid und zweieinhalbmal so viele wie im Jahre 2009. Der Grossteil der Betroffenen war &auml;lter als 55 Jahre (Abb. 2) und die meisten litten unter einer schwerwiegenden, zum Tod f&uuml;hrenden Krankheit. Angegeben wurde bei 42 % der Betroffenen Krebs, bei 14 % eine neurodegenerative Erkrankung, bei 11 % eine Herz-Kreislauf-Krankheit und bei 10 % eine Erkrankung des Bewegungsapparates.<sup>1</sup></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Leading Opinions_Neuro_1805_Weblinks_lo_neuro_1805_s44_abb1+2.jpg" alt="" width="1417" height="1479" /></p> <h2>Fast immer mit psychiatrischer Krankheit assoziiert</h2> <p>Von 1995 bis 2003 begingen absolut gesehen immer weniger Menschen einen Suizid, was auch auf die bessere Erkennung und Behandlung von Depressionen zur&uuml;ckgef&uuml;hrt wird. Doch die F&auml;lle von Sterbehilfe haben zugenommen, insbesondere seit 2008. Im Jahr 2014 waren von 7 Suiziden 5 assistiert (Abb. 1).<sup>1</sup> Suizide sind in allen Altersgruppen bei M&auml;nnern h&auml;ufiger, insbesondere im Alter.<sup>2</sup> Assistierte Suizide werden dagegen bei M&auml;nnern und Frauen mit zunehmendem Alter &auml;hnlich oft registriert.<sup>1</sup> Unabh&auml;ngig vom Alter ist ein Suizid in der Mehrzahl der F&auml;lle mit einer psychischen Krankheit assoziiert, und fast alle psychischen Erkrankungen sind mit einem erh&ouml;hten Suizidrisiko verbunden.<sup>3, 4</sup> Depressionen spielen dabei aufgrund der hohen Pr&auml;valenz eine zentrale Rolle.<br /> &laquo;Obwohl Suizide und Suizidversuche h&auml;ufig sind, spricht kaum jemand dar&uuml;ber &raquo;, so Stoppe. &laquo;Immer noch gibt es Vorurteile, dass die meisten Suizide Bilanzsuizide sind, also dass der Betroffene sachlich das F&uuml;r und Wider abgewogen hat.&raquo; Die Bilanz eines depressiven Menschen, der nicht korrekt therapiert oder durch die Krankheit vereinsamt ist, kann aber negativ ausfallen. Gerade bei &auml;lteren Menschen werden Depressionen noch &ouml;fter &uuml;bersehen als bei J&uuml;ngeren.<sup>5, 6</sup><br /> Dass ein Senior sich zu einem assistierten Suizid entschliesst, kann viele Gr&uuml;nde haben. Am h&auml;ufigsten gaben Patienten in einer Studie von der Universit&auml;t Z&uuml;rich Schmerzen an, neurologische Symptome, Dyspnoe, dass sie eine Langzeitbetreuung ben&ouml;tigen oder immobil sind.<sup>7</sup> Auch &Auml;rzte vermuteten bei ihren Patienten als Motiv &auml;hnlich h&auml;ufig diese Gr&uuml;nde. An weitere Gr&uuml;nde wird oft nicht gedacht, etwa dass die Patienten Angst haben, die Kontrolle &uuml;ber ihren Tod oder gar ihre W&uuml;rde zu verlieren. &laquo;Diese Aspekte muss man als Arzt im Hinterkopf behalten, wenn man einen schwerkranken Patienten betreut&raquo;, sagt Stoppe. &laquo;Eine gute Palliative Care erlaubt dem Patienten ein h&ouml;heres Wohlbefinden und verringert die Angst vor dem Sterben; wir sollten alles tun, um ihm Schmerzen oder das Gef&uuml;hl der Einsamkeit zu nehmen.&raquo;</p> <h2>Medikamente nur in kleinen Mengen rezeptieren</h2> <p>Hat jemand schon einmal einen Suizidversuch unternommen, ist dies der st&auml;rkste Risikofaktor, dass er es noch einmal versucht.<sup>5</sup> Allerdings ist bei jedem zweiten Suizid kein Versuch vorangegangen. Je &auml;lter ein Mensch wird, desto wahrscheinlicher ist es, dass ein erneuter Suizidversuch fatal endet, weil der &auml;ltere Organismus fragiler ist und zudem eher Methoden mit hoher Letalit&auml;t gew&auml;hlt werden, zum Beispiel Schusswaffen.<sup>8</sup><br /> Um Suizide zu vermeiden, gibt es verschiedene Ans&auml;tze. Einer der wichtigsten ist, den Zugang zu den Methoden zu erschweren, etwa den Angeh&ouml;rigen zu raten, allf&auml;llige Schusswaffen nur an einem sicheren Ort aufzubewahren oder am besten ganz zu entfernen, als Arzt bestimmte Medikamente nur in kleinen Mengen zu rezeptieren und zum Beispiel auf trizyklische Antidepressiva ganz zu verzichten, weil diese bei &Uuml;berdosierung mit einer hohen Letalit&auml;t einhergehen.</p> <h2>Vordergr&uuml;ndig somatische Beschwerden</h2> <p>Fast jeder zweite Mensch, der Suizid begeht, sucht im Monat oder sogar in der Woche zuvor noch seinen Hausarzt auf. Dabei erz&auml;hlt der Patient dann aber meist nichts von seinen Suizidgedanken, sondern klagt &uuml;ber somatische Beschwerden. &laquo;Einf&uuml;hlsam sollte man nicht nur nach den somatischen Symptomen fragen, sondern auch die Psyche im Blick haben&raquo;, sagt Stoppe. Ein guter Anlass kann zum Beispiel die Patientenverf&uuml;gung sein: Hier kann man auch Sorgen oder W&uuml;nsche zum Lebensende ansprechen. Gut bew&auml;hrt sich die Frage: &laquo;Und wie geht es Ihnen sonst?&raquo; als Einladung, &uuml;ber andere als somatische Beschwerden zu reden. &Auml;ussert ein Patient den Wunsch nach assistiertem Suizid, sollte man versuchen, neutral zu bleiben und zu verstehen, warum der Patient dies m&ouml;chte. Hat er Sorgen, seine chronische Krankheit k&ouml;nne schlimmer werden? F&uuml;hlt er sich alleine, hat er Schmerzen, findet er das Leben nicht mehr lebenswert? Besonders sollte man auch auf die Zeichen einer Depression achten, die sich bei &auml;lteren Menschen &ouml;fter durch unspezifische somatische Beschwerden &auml;ussert, z.B. allgemeine Abgeschlagenheit, Mattigkeit, Appetitst&ouml;rungen und gastrointestinale Beschwerden, Druckgef&uuml;hle in Hals und Brust, funktionelle Beschwerden, Schwindel, Sehst&ouml;rungen, Muskelverspannungen, sexuelle Funktionsst&ouml;rungen/Libidoverlust und Ged&auml;chtnisst&ouml;rungen.<br /> Nicht vergessen darf man die Angeh&ouml;rigen. Ein Suizid ist f&uuml;r die Hinterbliebenen eine grosse Last, unter anderem weil sie von Schuldgef&uuml;hlen geplagt werden. Auch ein assistierter Suizid kann ziemlich belasten: Angeh&ouml;rige, die bei einem assistierten Suizid dabei sind, leiden sp&auml;ter unter erheblichen psychischen Stresssymptomen, wie eine Studie aus Leipzig und Z&uuml;rich zeigte.<sup>9</sup> &laquo;Man sollte seinen Patienten fragen, ob er an einen Suizid denkt, und die Gefahr einsch&auml;tzen &raquo;, r&auml;t Stoppe. &laquo;Und wenn man meint, der Situation nicht gewachsen zu sein, oder wenn man an den Patienten nicht herankommt: lieber fr&uuml;her als sp&auml;ter zu einem Experten in Alterspsychiatrie &uuml;berweisen.&raquo;</p> <h2>Positionspapiere zur Suizidpr&auml;vention im Alter</h2> <p>Suizide im Alter sind h&auml;ufig, trotzdem findet diese Tatsache kaum Aufmerksamkeit in der &Ouml;ffentlichkeit. Im Gegenteil: Suizid im Alter wird oft hingenommen. Deshalb hat Prof. Gabriela Stoppe mit der Arbeitsgruppe &laquo;Alter und psychische Gesundheit &raquo; von Public Health Schweiz ein Positionspapier &laquo;Suizidpr&auml;vention im Alter &raquo; verfasst: https://public-health.ch/de/ aktivit%C3 % A4ten/fachgruppen/mentalhealth/. Der Vorstand von Ipsilon hat ausserdem ein Positionspapier zum assistierten Suizid herausgegeben: www.ipsilon. ch/de/aktuell/news.cfm.</p></p> <p class="article-quelle">Quelle: 26<sup>th</sup> European Congress of Psychiatry, 3.–6. März 2018, Nizza; Forum Suizidprävention, 22. Oktober 2018, Rüschlikon </p> <p class="article-footer"> <a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a> <div class="collapse" id="collapseLiteratur"> <p><strong>1</strong> Bundesamt f&uuml;r Statistik, ed. BFS Aktuell. Assistierter Suizid (Sterbehilfe) und Suizid in der Schweiz. 2016, Bundesamt f&uuml;r Statistik BFS: Neuch&acirc;tel <strong>2</strong> Turecki G, Brent DA : Lancet 2016; 387(10024): 1227-39 <strong>3</strong> Harris EC, Barraclough B : Br J Psychiatry 1997; 170: 205-28 <strong>4</strong> Isomets&auml; E et al.: BMJ 1995; 310: 1366-7 <strong>5</strong> Minder J et al.: Schweiz Med Forum 2018; 18(10): 230-5 <strong>6</strong> Hatzinger M: Schweizer Archiv f&uuml;r Neurologie und Psychiatrie 2011; 162(5): 179-89 <strong>7</strong> Fischer S et al.: Swiss Med Wkly 2009; 139: 333-8 <strong>8</strong> Carroll R et al.: PloS One 2014; 9(2): e89944 <strong>9</strong> Wagner B et al.: Eur Psychiatry 2012; 27: 542-6</p> </div> </p>
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