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Urgency: von der Physiopathologie zur Therapie

<p class="article-intro">Urgency ist als imperativer Harndrang definiert. Die International Continence Society (ICS) definiert Urgency wie folgt: „a sudden compelling desire to pass urine which is difficult to defer“.<sup>1</sup> Dieses Symptom beeinflusst stark die Lebensqualität und für die Patienten scheint dies störender als die Inkontinenz zu sein. Die Definition von imperativem Harndrang ist aber noch heute nicht ganz klar und einheitlich, und wenn man gesunde oder betroffene Leute befragt, was sie mit imperativem Drang meinen, bekommt man die unterschiedlichsten Antworten, wie z.B. schnell urinieren, Brennen beim Urinieren, inkomplette Blasenentleerung, Schmerzen usw.</p> <p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>Urgency ist ein imperativer Harndrang. Diese Definition ist heute noch nicht einheitlich, da sie auch eine subjektive Interpretation beinhaltet.</li> <li>Die Diagnose des imperativen Harndranges ist eine Ausschlussdiagnose und die Voraussetzung f&uuml;r die Therapieentscheidung.</li> <li>Die individuelle Wahrnehmung des imperativen Harndranges und m&ouml;gliche Chronifizierungsfaktoren m&uuml;ssen in die Diagnose und die Therapie miteinbezogen werden.</li> </ul> </div> <h2>Physiologie des Harndrangs</h2> <p>Die Wahrnehmung von Harndrang ist ein physiologisches Ereignis und wurde ausf&uuml;hrlich erforscht. Im Jahr 2002 wurden durch urodynamische Studien bei gesunden Probanden drei normale Blasensensationen definiert: erste Wahrnehmung der Blasenf&uuml;llung (FSF, &bdquo;first sensation of filling&ldquo;), erster Harndrang (FDV, &bdquo;first desire to void&ldquo;) und starker Harndrang (SDV, &bdquo;strong desire to void&ldquo;).<sup>2</sup> Diese Terminologie wurde von der ICS &uuml;bernommen und zugelassen. Wie entstehen diese Sensationen? Die willentlich ad&auml;quate Kontrolle der Blasenf&uuml;llung und -entleerung ist ein komplexes Geschehen, das von autonom gesteuerten viszeralen Funktionen und von willk&uuml;rlich gesteuerten motorischen Kontrollfunktionen abh&auml;ngig ist und von emotionalen sowie kognitiven Verhaltensfaktoren beeinflusst wird (Abb. 1).</p> <h2>Periphere Innervation</h2> <p>Bei der Blasenf&uuml;llung reagieren Mechanosensoren in der Blasenwand und der Urethra auf die entstehende Dehnung und Druckver&auml;nderung. &Uuml;ber &beta;-adrenerge Rezeptoren in der Blasenwand wird eine Hemmung der Detrusoraktivit&auml;t erreicht. Selektive &alpha;-adrenerge Rezeptoren stimulieren den Blasenhals, wodurch bei zunehmender Blasenf&uuml;llung einerseits eine Ruhigstellung des Detrusors, andererseits eine zunehmende Tonisierung des Blasenhalses und der proximalen Urethra als Teil des Kontinenzmechanismus erreicht wird. &Uuml;ber Mechanorezeptoren der myofaszialen Strukturen des Beckenbodens wird auch auf somatischer Ebene deren Tonus reguliert. Dieser Vorgang ist nahezu wahrnehmungsfrei. &Uuml;ber das zentral gelegene pontine Miktionszentrum kann durch willk&uuml;rliche Hemmung des Miktionsreflexes die Detrusorkontraktion so lange unterdr&uuml;ckt werden, bis die &auml;u&szlig;eren Umst&auml;nde eine Blasenentleerung zulassen.</p> <p><strong>Zentrale Steuerung</strong><br />Im zentralen Nervensystem wird die Koordination afferenter und efferenter Signale gesteuert und die Wahrnehmung und Interpretation des Harndranges bestimmt. W&auml;hrend der F&uuml;llung der Harnblase werden afferente Signale &uuml;ber das R&uuml;ckenmark in den Hirnstamm (pontines Miktionszentrum = PMC, periaqu&auml;duktales Grau = PAG) und zentralen Kortex und durch exterozeptive Reize (Schmerz, Temperatur, Ber&uuml;hrung) wie auch propriozeptive Reize (Dehnungs-, Kontraktionszustand) der intramuskul&auml;ren und muk&ouml;sen Rezeptoren der Blasenwand zum Thalamus geleitet und informieren &uuml;ber Blasenf&uuml;llungsgef&uuml;hl und Harndrang. In den letzten Jahren konnten dank der Entwicklung der Neuroradiologie und durch funktionelle Magnetresonanz (fMRI) verschiedene zust&auml;ndige Gehirnregionen in der F&uuml;llungsphase der Blase beschrieben werden.<sup>3</sup> W&auml;hrend der F&uuml;llung der Harnblase werden Afferenzen im PAG und in der Insula verarbeitet. Der anteriore zingul&auml;re Kortex (ACC) ist in das Monitoring und die Kontrolle der afferenten Informationen involviert. Der pr&auml;frontale Kortex beeinflusst die Entscheidung zum Harnlassen. Insula und ACC sind auch f&uuml;r die Wahrnehmung und die Interpretation des Dranges zust&auml;ndig (Abb. 1).</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Urologik_Uro_1804_Weblinks_uro_1804_s20_abb1.jpg" alt="" width="650" /></p> <h2>Klinik</h2> <p>Urgency ist ein Symptom, kommt als solches bei verschiedensten Pathologien vor und h&auml;ngt auch vom Lebensstil ab (Tab. 1). Prim&auml;re Noxen in der Blase oder Urethra, in den myofaszialen oder neurogenen Strukturen im Becken k&ouml;nnen zu erh&ouml;hter Mechanosensitivit&auml;t f&uuml;hren und so auch bei geringer F&uuml;llung bereits ein Dranggef&uuml;hl allein oder begleitet von anderen Symptomen hervorrufen. Bei inflammatorischen Prozessen oder Schmerzsyndromen kann die F&uuml;llung der Blase als schmerzhaft erlebt werden.<br /> Urgency verursacht andere Symptome wie Nykturie, Pollakisurie und Inkontinenz und f&uuml;hrt zu Ver&auml;nderungen des Verhaltens (weniger trinken, h&auml;ufige Toiletteng&auml;nge, Einschr&auml;nkung der Aktivit&auml;ten, sozialer R&uuml;ckzug) und zu einer konsequenten Verschlechterung der Lebensqualit&auml;t.<br /> Die Symptome imperativer Harndrang, Pollakisurie und Dranginkontinenz wurden von der ICS als &bdquo;overactive bladder&ldquo; (OAB) zusammengefasst.<sup>1</sup></p> <h2>Chronifizierung</h2> <p>Die Wahrnehmung von Harndrang bei der Blasenf&uuml;llung ist ein physiologisches Ereignis. Im zentralen Nervensystem wird die Interpretation von Drang als normales oder imperatives Signal von emotionalen und kognitiven Faktoren beeinflusst (limbisches System). Dies zeigt sich in der Praxis, in der Drang individuell unterschiedlich beschrieben (Druck, Spannung, Schmerz, W&auml;rme usw.) und unterschiedlich emotional bewertet wird. Wird die Wahrnehmung von Drang mit Harnverlust oder/und Schmerz verbunden, so kann es zum erlernten Verhalten von Angst und zur zentralen Chronifizierung des Symptoms kommen. Daher ist Urgency in der chronischen Form &auml;hnlich zu behandeln wie andere Chronifizierungsprozesse.</p> <h2>Diagnose</h2> <p>Die Diagnose ist wegen der fehlenden Spezifit&auml;t der Symptomatik eine Ausschlussdiagnose. Die Grunderkrankung, die zum Drangsymptom gef&uuml;hrt hat, muss ausgeschlossen werden, wie z.B. unspezifische Infektionen, anatomische Anomalien, subvesikale Obstruktion, Tumoren oder metabolische St&ouml;rungen (Tab. 1). Wichtig f&uuml;r die Diagnose sind eventuelle Komorbidit&auml;ten oder Chronifizierungsfaktoren. Voraussetzung f&uuml;r die Diagnose ist, das Miktionsverhalten der Patienten zu erfassen. Dazu dienen Miktionstagebuch oder Miktionsprotokoll, wobei die Trinkzeiten und -mengen sowie Blasenentleerungszeiten und die Urinmenge t&auml;glich notiert werden.<br /> Zur Messung der Urgency stehen verschiedene Skalen zur Verf&uuml;gung, wie die Indevus Urgency Severity Scale (IUSS), die Urgency Perception Scale (UPS) und der Overactive Bladder Questionnaire (OAB-q). Die Patient Perception of Intensity of Urgency Scale (PPIUS) ist die meistbenutzte Skala zur Bestimmung des Schweregrades von Drang und Dranginkontinenz. Der Total Urgency and Frequency Score (TUFS) ist &auml;hnlich der PPIUS und misst Drang und Pollakisurie.<sup>4</sup><br /> Eine funktionelle Abkl&auml;rung und die Klassifikation der Pathophysiologie einer gest&ouml;rten Speicherfunktion der Harnblase erfolgen durch die urodynamische Untersuchung. Das Ziel der urodynamischen Untersuchung ist, die Symptome zu reproduzieren und Faktoren, welche die Therapie beeinflussen k&ouml;nnen, zu identifizieren.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Urologik_Uro_1804_Weblinks_uro_1804_s20_tab1.jpg" alt="" width="650" height="410" /></p> <h2>Therapie</h2> <p>Die klinische Diagnose ist die Voraussetzung f&uuml;r die Therapieentscheidung. Eine Verhaltenstherapie im Sinne einer &Auml;nderung des pers&ouml;nlichen Lebensstils, der Wahrnehmung der Harnblase und des Miktionsverhaltens sollte bei jedem Patienten eingeleitet werden. Voraussetzungen daf&uuml;r sind die hohe Motivation von &Auml;rzten und Patienten und eine engmaschige Betreuung der Patienten. Auch die Physiotherapie wird als prim&auml;re Therapie eingesetzt. In einer aktuellen Revision der Literatur wurde die Wirksamkeit des Beckenbodentrainings in der Verbesserung der OAB-Symptome untersucht. Trotz inhomogener Daten zeigte sich eine nachweisliche Verbesserung der Lebensqualit&auml;t.<sup>5</sup> Beim Symptom Urgency ist die Pharmakotherapie die Behandlung der ersten Wahl. Die Antagonisten der Muskarinrezeptoren sind die meistbenutzten in der Therapie der Urgency und OAB. Der Wirkmechanismus ist die Hemmung der Blasendetrusorkontraktionen durch die Blockade von Muskarinrezeptoren. &beta;3- Agonisten, wie Mirabegron, wurden von der Food and Drug Administration (FDA) 2012 zugelassen. Die Aktivierung der &beta;3- Rezeptoren bewirkt eine Detrusorrelaxation und somit eine Beg&uuml;nstigung des Speicherverm&ouml;gens der Blase.<br /> Die Monotherapie mit Antimuskarinika zeigte Erfolge bei 40 % der Patienten nach 12 Wochen. Viele Studien zeigten, dass Patienten unter Mirabegron-Behandlung l&auml;nger unter der Therapie bleiben im Vergleich zu Anticholinergika, die h&auml;ufiger zu belastenden Nebenwirkungen f&uuml;hren. Unter Mirabegron wurden jedoch schwerwiegende F&auml;lle von Hypertonie berichtet. Das Ansprechen auf einzelne Pr&auml;parate ist sehr individuell, sodass durchaus ein probatorisches Wechseln innerhalb einer Substanzgruppe oder eine Kombination von Pr&auml;paraten sinnvoll ist. Die Studien Symphony, BESIDE und SYNERGY zeigten eine signifikante Besserung der Symptome und der Lebensqualit&auml;t unter einer Kombinationstherapie versus Monotherapie.<sup>6</sup> Auch in der medikament&ouml;sen Therapie spielen verschiedene Aspekte sowie das subjektive Empfinden eine Rolle. In der Behandlung der chronifizierten Urgency m&uuml;ssen Ma&szlig;nahmen zur Beeinflussung des Erlebens und Verhaltens, der kognitiven Verkn&uuml;pfung der Drangwahrnehmung und der daraus subjektiven Bewertung von Drang einbezogen werden.<br /> Mit dem Ziel, die Aktivit&auml;t des Detrusors zu verringern, zeigt auch die intravesikale Anwendung von Botulinumtoxin A eine signifikante und klinisch relevante Besserung der Drangsymptomatik.<br /> Neuromodulationsverfahren wie die transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS), die perkutane/transkutane tibiale Nervenstimulation (PTNS/TTNS) und die sakrale Neuromodulation (SNM) stellen sich auch bei Urgency als vielversprechende Zweitlinientherapie dar. Durch die Stimulation von peripheren Afferenzen kommt es zu einer Modulation von R&uuml;ckenmarksreflexen und Gehirnzentren. Eine aktuelle Studie verglich die Gehirnaktivit&auml;t vor und nach SNM bei OAB-Patienten und zeigte eine signifikante Reduktion der Aktivit&auml;t im ACC, in der Insula und im pr&auml;frontalen Kortex nach SNM.<sup>7</sup></p> <p><br />Zusammenfassend kann geschlossen werden, dass uns heute viele Therapien in der Behandlung der Urgency als Symptom zur Verf&uuml;gung stehen. Individuelle Wahrnehmung und subjektive Interpretation der Urgency sollten in die Diagnose und Therapie unserer Patienten miteinbezogen werden.</p></p> <p class="article-footer"> <a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a> <div class="collapse" id="collapseLiteratur"> <p><strong>1</strong> Abrams P et al.: The standardisation of terminology of lower urinary tract function: report from the Standardisation Sub-committee of the International Continence Society. Neurourol Urodyn 2002; 21: 167-78 <strong>2</strong> Wyndaele JJ, De Wachter S: Cystometrical sensory data from a normal population: comparison of two groups of young healthy volunteers examined with 5 years interval. Eur Urol 2002; 42(1): 34-8 <strong>3</strong> Griffiths D, Tadic SD: Bladder control, urgency, and urge incontinence: evidence from functional brain imaging. Neurourol Urodyn 2008; 27(6): 466-74 <strong>4</strong> Notte SM et al.: Content validity and test-retest reliability of Patient Perception of Intensity of Urgency Scale (PPIUS) for overactive bladder. BMC Urol 2012; 12: 26 <strong>5</strong> Monteiro S et al.: Efficacy of pelvic floor muscle training in women with overactive bladder syndrome: a systematic review. Int Urogynecol J 2018; 29(11): 1565-73 <strong>6</strong> Andersson KE et al.: The efficacy of mirabegron in the treatment of urgency and the potential utility of combination therapy. Ther Adv Urol 2018; 10(8): 243-56 <strong>7</strong> Weissbart SJ et al.: Specific changes in brain activity during urgency in women with overactive bladder after successful sacral neuromodulation: a functional magnetic resonance imaging study. J Urol 2018; 200(2): 382-8</p> </div> </p>
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