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Chronisches Beckenschmerzsyndrom: Update 2018

<p class="article-intro">Das chronische Beckenschmerzsyndrom (CBSS) stellt Hausärzte und Urologen vor eine therapeutische Herausforderung. In den letzten Jahren hat sich ein Phänotyp-orientiertes, multimodales und interdisziplinäres Therapievorgehen bewährt (UPOINT-Konzept). Neuromodulative Therapieansätze stellen in Zukunft eine vielversprechende Behandlungsmöglichkeit dar.</p> <p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>Es gibt nicht &laquo;das&raquo; CBSS: Beim CBSS handelt es sich um eine heterogene, multifaktorielle Erkrankung.</li> <li>Monotherapien sollten wenn m&ouml;glich zugunsten Ph&auml;notypgesteuerter multimodaler und interdisziplin&auml;rer Therapieans&auml;tze vermieden werden.</li> <li>Die Forschung besch&auml;ftigt sich derzeit mit Fragen der Schmerzzentralisierung und Neuroplastizit&auml;t des Zentralnervensystems. Neuromodulative Therapieverfahren k&ouml;nnen vor diesem Hintergrund vielversprechende neue Therapieoptionen darstellen.</li> </ul> </div> <h2>Einleitung</h2> <p>Per Definition spricht man von einem CBSS, wenn Schmerzen oder ein Unwohlsein im Bereich des kleinen Beckens in Assoziation mit Blasenspeichersymptomen und/oder sexuellen Funktionsst&ouml;rungen vorliegen, die w&auml;hrend mindestens 3 Monaten in den letzten 6 Monaten bestanden haben. Eine Infektion oder offensichtliche anderweitige Pathologie muss vor der Diagnosestellung ausgeschlossen sein. Beim CBSS handelt es sich um die h&auml;ufigste urologische Diagnose beim unter 50-j&auml;hrigen Mann. Sie betrifft fast jeden zehnten Patienten in der ambulanten urologischen Sprechstunde und ist auch f&uuml;r Grundversorger relevant, da Haus&auml;rzte im Durchschnitt jede Woche einen Patienten mit CBSS antreffen.<sup>1</sup> Vom sozio&ouml;konomischen Standpunkt her gesehen, f&uuml;hrt das CBSS durch direkte und indirekte Kosten (z.B. krankheitsbedingte Arbeitsausf&auml;lle) zu einer erheblichen Belastung der Gesundheitssysteme.<sup>2</sup><br /> Klinisch bedeutsam ist die Abgrenzung des CBSS von einer chronischen bakteriellen Prostatitis. Prostatitiden werden in vier Kategorien eingeteilt (Tab. 1). Bei 95 % der Patienten mit chronischen Prostatitiden k&ouml;nnen im Prostatamassage- Urin weder Leukozyten nachgewiesen noch anderweitige Erreger kultiviert werden. Diese Patientengruppe wird dementsprechend der Gruppe IIIb zugeordnet (nicht entz&uuml;ndliches CBSS). In vielen F&auml;llen werden diese Patienten, trotz fehlenden Erregernachweises, mit Antibiotika behandelt. Die fehlende Evidenz f&uuml;r diese Strategie konnte durch Alexander et al. bereits 2004 gezeigt werden.<sup>3</sup> Auch von einer empirischen Anwendung von Alphablockern muss abgeraten werden.<sup>4</sup><br /> Trotz zahlreicher prospektiv-randomisierter Studien gibt es derzeit einzig f&uuml;r Quercetin (ein Flavonoid mit antioxidativen Eigenschaften) und Cernilton (einen Pollenextrakt) Anhaltspunkte f&uuml;r ein Therapieansprechen, welches &uuml;ber einen Placeboeffekt hinausgeht.<sup>5, 6</sup></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Leading Opinions_Uro_1802_Weblinks_lo_uro_1802_s20_tab1.jpg" alt="" width="1419" height="763" /></p> <h2>Ph&auml;notyp-gesteuerte Therapie (UPOINT-Konzept)</h2> <p>Das Verst&auml;ndnis hinsichtlich des CBSS hat sich in den letzten Jahren zunehmend dahingehend gewandelt, dass es heute als multifaktorielle Erkrankung verstanden wird, welche sich aus verschiedenen klinischen Aspekten zusammensetzen kann. Neben urologischen Faktoren spielen h&auml;ufig auch gyn&auml;kologische oder gastroenterologische Ursachen eine Rolle. Auch muskul&auml;re Verspannungen oder Funktionsst&ouml;rungen des Beckenbodens und psychologische Aspekte m&uuml;ssen in der Gesamtbeurteilung der Patienten mitber&uuml;cksichtigt werden.<br /> Einen Vorschlag f&uuml;r eine holistische Betrachtung und Beurteilung der CBSSPatienten hat Prof. Nickel, einer der Pioniere auf dem Gebiet des CBSS, vor knapp zehn Jahren im Sinne der UPOINT-basierten Therapie gemacht (Tab. 2). Hierbei werden die Patienten hinsichtlich allf&auml;llig bestehender Miktionsbeschwerden, psychosozialer Belastungen, Organ-spezifischer Probleme, Infektionen, neurologischer Erkrankungen und muskul&auml;rer Verspannungen beurteilt. Dieses Vorgehen soll zu einer gezielteren, auf dem jeweils vorliegenden Ph&auml;notyp basierenden Behandlung des CBSS f&uuml;hren.<sup>7</sup><br /> Stehen Miktionsbeschwerden im Vordergrund, haben Alphablocker, Antimuskarinika und PDE-5-Inhibitoren nach wie vor einen Stellenwert, bei psychosozialen Begleitfaktoren empfehlen sich jedoch eher kognitive Verhaltenstherapien oder psychologisches Counseling. Antibiotische Therapien sollten lediglich den F&auml;llen vorbehalten bleiben, in denen ein eindeutiger Erreger kultiviert werden kann. Bei Patienten, bei denen eine systemische Schmerzproblematik vorliegt oder neuropathische Schmerzen zugrunde liegen, k&ouml;nnen Schmerz-distanzierende Medikamente Sinn machen (z.B. Pregabalin oder Amitriptylin). Gute Ergebnisse k&ouml;nnen bei Verspannungen des Beckenbodens durch eine Beckenboden-Physiotherapie respektive Triggerpunkt-Therapie erzielt werden.<br /> Je nach Konstellation der Symptome empfiehlt sich zudem auch die interdisziplin&auml;re Zusammenarbeit mit den Kollegen der Psychosomatik.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Leading Opinions_Uro_1802_Weblinks_lo_uro_1802_s21_tab2.jpg" alt="" width="1419" height="1021" /></p> <h2>Schmerzzentralisierung und Neuromodulation</h2> <p>Zunehmend steht bei Patienten mit CBSS die Frage im Vordergrund, wann und wieso es zu einer Chronifizierung der Schmerzen kommt. Hier ist vermehrt das Zentralnervensystem im Fokus der gegenw&auml;rtigen Forschung. Es scheint nachvollziehbar, dass auf dem sensomotorischen Kortex des Grosshirns nicht nur &auml;usserlich sichtbare Organe (z.B. Arme oder Beine) abgebildet werden, sondern auch gut innervierte innere Organe (z.B. Blase, Prostata, Rektum, Urethra und Uterus). In Analogie zu den bekannten Phantomschmerzen nach Amputationstraumata k&ouml;nnten also Schmerzen, welche auf ein Organ des Beckens projizieren, tats&auml;chlich ihren Ausl&ouml;ser im Zentralnervensystem haben.<br /> Anatomische und funktionelle Hirn- MRI-Untersuchungen von Patienten mit CBSS zeigten unl&auml;ngst in einem Vergleich mit einer Kontrollkohorte, dass bei CBSSPatienten deutliche strukturelle Ver&auml;nderungen in der grauen Hirnsubstanz des limbischen Systems (Gyrus cinguli anterior) gefunden werden konnten, welche auch in funktionellen Bildsequenzen reproduziert werden konnten.<sup>8, 9</sup><br /> Dem limbischen System kommt eine zentrale Rolle bei der Verarbeitung sensorischer Stimuli zu. Insbesondere erfolgt dort die Wertung, ob ein Reiz als schmerzhaft empfunden wird oder nicht. Dementsprechend k&ouml;nnten Ver&auml;nderungen in diesen Hirnarealen eine h&ouml;here individuelle Vulnerabilit&auml;t f&uuml;r die Ausbildung chronischer Schmerzsyndrome erkl&auml;ren.<br /> Ungel&ouml;st ist jedoch nach wie vor das Henne-Ei-Problem: Pr&auml;disponieren genetisch angelegte Hirnver&auml;nderungen f&uuml;r die Entwicklung eines CBSS oder entstehen die beobachteten Hirnver&auml;nderungen sekund&auml;r als Reaktion auf l&auml;nger dauernde Schmerzzust&auml;nde?<br /> Diese neuen Ans&auml;tze haben in den letzten Jahren dazu gef&uuml;hrt, dass das Zentralnervensystem auch vermehrt Zielorgan f&uuml;r neue Therapieans&auml;tze geworden ist. An erster Stelle seien hier neuromodulative Verfahren erw&auml;hnt. In mehreren Studien wurde &uuml;ber gute Erfolge der transkutanen elektrischen Nervenstimulation (TENS), der perkutanen tibialen Nervenstimulation (pTNS) oder der sonoelektromagnetischen Therapie berichtet.<sup>10&ndash;12</sup></p> <h2>MAPP-Forschungsnetzwerk</h2> <p>Zur systematischen Erforschung des CBSS wurde durch die National Institutes of Health (NIH) 2008 das &laquo;Multidisciplinary Approach to the Study of Chronic Pelvic Pain (MAPP)&raquo;-Forschungsnetzwerk gegr&uuml;ndet. Ziel dieser Task Force ist es, im interdisziplin&auml;ren Austausch von Spezialisten verschiedener Fachgebiete und durch klinische Studien (z.B. Kohortenstudien zur Ph&auml;notypisierung betroffener Patienten) Ursachen und Behandlungsoptionen f&uuml;r das CBSS zu finden. Die klinischen Forschungsschwerpunkte liegen derzeit auf der Beantwortung epidemiologischer Fragestellungen und der Erforschung der Neuroplastizit&auml;t des Zentralnervensystems. Hier kommt der Neuroradiologie zunehmend eine zentrale Bedeutung zu. Auf dem Gebiet der Grundlagenforschung versucht man, Biomarker der Erkrankung zu identifizieren und hormonelle Interaktionen der Schmerzverarbeitung besser zu verstehen.</p> <div id="fazit"> <h2>Fazit</h2> <p>Das CBSS wird heutzutage als multifaktorielle Erkrankung verstanden und nicht als klar umschriebenes homogenes Krankheitsbild. Ph&auml;notyp-gesteuerte multimodale und interdisziplin&auml;re Therapieans&auml;tze sollten dementsprechend anstelle von Monotherapien angewendet werden. Vor dem Hintergrund der Neuroplastizit&auml;t des Zentralnervensystems k&ouml;nnten in Zukunft neuromodulative Therapieverfahren in der Behandlung des CBSS an Bedeutung gewinnen.</p> </div></p> <p class="article-footer"> <a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a> <div class="collapse" id="collapseLiteratur"> <p><strong>1</strong> Krieger JN et al.: Epidemiology of prostatitis. Int J Antimicrob Agents 2008; 31(Suppl 1): S85-90 <strong>2</strong> Duloy AM et al.: Economic impact of chronic prostatitis. Curr Urol Rep 2007; 8(4): 336-9 <strong>3</strong> Alexander RB et al.: Ciprofloxacin or tamsulosin in men with chronic prostatitis/chronic pelvic pain syndrome: a randomized, double-blind trial. Ann Intern Med 2004; 141(8): 581-9 <strong>4</strong> Nickel JC et al.: Alfuzosin and symptoms of chronic prostatitis-chronic pelvic pain syndrome. N Engl J Med 2008; 359(25): 2663-73 <strong>5</strong> Shoskes DA et al.: Quercetin in men with category III chronic prostatitis: a preliminary prospective, doubleblind, placebo-controlled trial. Urology 1999; 54(6): 960-3 <strong>6</strong> Wagenlehner FM et al.: A pollen extract (Cernilton) in patients with inflammatory chronic prostatitis-chronic pelvic pain syndrome: a multicentre, randomised, prospective, double-blind, placebo-controlled phase 3 study. Eur Urol 2009; 56(3): 544-51 <strong>7</strong> Magistro G et al.: Contemporary management of chronic prostatitis/chronic pelvic pain syndrome. Eur Urol 2016; 69(2): 286-97 <strong>8</strong> Farmer MA et al.: Brain functional and anatomical changes in chronic prostatitis/chronic pelvic pain syndrome. J Urol 2011; 186(1): 117-24 <strong>9</strong> Mordasini L et al.: Chronic pelvic pain syndrome in men is associated with reduction of relative gray matter volume in the anterior cingulate cortex compared to healthy controls. J Urol 2012; 188(6): 2233-7 <strong>10</strong> Kabay S et al.: Efficiency of posterior tibial nerve stimulation in category IIIB chronic prostatitis/chronic pelvic pain: a shamcontrolled comparative study. Urol Int 2009; 83(1): 33-8 <strong>11</strong> Kessler TM et al.: Sono-electro-magnetic therapy for treating chronic pelvic pain syndrome in men: a randomized, placebo-controlled, double-blind trial. PLoS One 2014; 9(12): e113368 <strong>12</strong> Tellenbach M et al.: Transcutaneous electrical nerve stimulation: an effective treatment for refractory non-neurogenic overactive bladder syndrome? World J Urol 2013; 31(5): 1205-10</p> </div> </p>
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