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Ein vernachlässigtes Organ rückt in den Fokus
Leading Opinions
Autor:
Prof. Dr. med. Andreas Günthert
Chefarzt Frauenklinik<br> Luzerner Kantonsspital<br> E-Mail: andreas.guenthert@luks.ch
30
Min. Lesezeit
22.03.2018
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<p class="article-intro">War die Vulva in der Vergangenheit ein Mysterium, zu dem es wenig gute Weiterbildungen und Literatur gab, so ist dieses Organ durch das Bedürfnis einer jüngeren Generation an Gynäkologen, die Bildung von Selbsthilfegruppen und nicht zuletzt auch durch die Laienpresse heute viel mehr präsent. Längst gibt es vielerorts spezialisierte interdisziplinäre Sprechstunden, und Vulvaerkrankungen werden als Hauptthema bei Symposien aufgenommen. Dennoch gibt es bei vielen alltäglichen Symptomen in der Praxis viele Unklarheiten und die rasant ansteigende Inzidenz des Vulvakarzinoms und seiner Vorstufen konfrontiert uns mit Unsicherheit hinsichtlich Präventionsstrategien.</p>
<hr />
<p class="article-content"><h2>Was war gestern aktuell?</h2> <p>Vulvaerkrankungen wurden meist wenig differenziert betrachtet, die Vulva war selten Gegenstand wissenschaftlicher Fragestellungen und allzu leichtfertig wurden Symptome mit Pilzinfektionen oder hormonellen Umstellungen in Zusammenhang gebracht. Wenn die Salben gegen Pilzerkrankungen oder die lokal applizierten Östrogene nicht halfen, dann konnte noch ein Dermatologe konsultiert werden. Ein Mapping der Vulva mit multiplen Biopsien war vor wenigen Jahren noch sehr verbreitet. Das Vulvakarzinom war eine Rarität und betraf fast ausschliesslich ältere Frauen. Beschwerden an der Vulva bei der postmenopausalen Frau wurden als vulvovaginale Atrophie zusammengefasst und man war überzeugt, dass eine Hormonersatztherapie hier Besserung bringt. Die Vulva wurde im klinischen Alltag der Gynäkologie oft nicht routinemässig untersucht, an der Universität und an Symposien wurden überwiegend die klassischen Krankheitsbilder der Venerologie behandelt. Vulvasprechstunden und internationale Arbeitsgruppen gab es nur vereinzelt, meist wurden Vulvaerkrankungen in Dysplasiesprechstunden behandelt oder leider auch häufig übersehen, weil sie nicht Gegenstand der Ausbildung waren. Die Vulva existierte medizinisch praktisch kaum oder wenn, dann als äusserer Teil der Vagina.</p> <h2>Was ist heute aktuell?</h2> <p>Durch sehr unterschiedliche Aufklärungskampagnen, aufgrund feministischer Bewegungen oder auch Arbeitsgruppen gegen Genitalbeschneidung sowie des vereinfachten Zugangs zu Medien und damit insbesondere der Pornographie, hat sich die Anschauung der Vulva in den letzten Jahren verändert. Kurzweilig sind die Bücher zur Vulva von Mithu Sanyal (2009 erschienen) und Liv Strömquist (2017 erschienen), die sich dem Organ auf historisch- wissenschaftliche und auch soziokulturelle Art widmen. Der sehr facettenreiche und wertungsfrei gestaltete Dokumentarfilm «Vulva 3.0» betrachtet die Welt der Vulva aus sehr unterschiedlichen Perspektiven und stimmt nachdenklich. Fachärzte für plastische Chirurgie legen den Standard der Normvulva fest und publizieren ihre Ergebnisse zu Korrekturoperationen, während gynäkologische Fachgesellschaften dringend vor solchen Korrekturoperationen abraten. In einer Umfrage der Frauenklinik des Luzerner Kantonsspitals konnten wir feststellen, dass Frauen über 50 Jahre in weniger als 20 % der Fälle ihr äusseres Genitale korrekt benennen können, bei jungen Frauen zwischen 15 und 34 Jahren sind es immerhin knapp 40 % (Abb. 1). Zudem eroberten Pflege- und Hygieneprodukte wie auch Schmuck den Markt für den Intimbereich, was zu neuen Problemen in Form von Ekzemen und Lichen simplex chronicus, basierend auf gesteigerter Körperhygiene und Kontaktallergenen, führte. Der rezeptfreie Zugang zu Arzneimitteln gegen Pilze oder Kombinationspräparaten führte zur Resistenzentwicklung und potenziell zur Verschleppung der Diagnose anderer Erkrankungen. Veränderte Sexualpraktiken sind dafür verantwortlich, dass HPV-assoziierte Präkanzerosen im Genitalbereich erheblich zugenommen haben. Das Pendant dazu findet sich in der Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde beim HPV-assoziierten Larynxkarzinom, ein prominentes Beispiel mit dieser Erkrankung ist Michael Douglas.<br /> Auch das Vulvakarzinom ist eines der Malignome mit der am schnellsten ansteigenden Inzidenz weltweit, und zwar beide Varianten, HPV- und Lichen-sclerosusassoziiert.<br /> Das Bedürfnis nach Verbesserung der Diagnostik und Therapie vonseiten der Patientinnen wie auch von ärztlicher Seite führte zu einer raschen Entwicklung in der Gynäkologie. Dermatologie und Gynäkologie sind einander näher gekommen und vielerorts werden Kooperationen gepflegt und interdisziplinäre Sprechstunden angeboten. Auch hat sich die Qualität der Ausbildung und der vorhandenen Fachliteratur deutlich verbessert. Der Zugang zu Leitlinien in der Behandlung von Vulvaerkrankungen wurde dank Internet vereinfacht und die Qualität dieser Leitlinien folgt hohen Ansprüchen. Gab es bis vor wenigen Jahren nur eine Selbsthilfegruppe für Vulvamalignome, so bestehen inzwischen Gruppen für Vulvodynie wie auch für Lichen sclerosus (www.lichensclerosus. ch). Beckenbodensymposien widmen sich interdisziplinär auch der Vulva und Physiotherapeutinnen wie auch Sexualtherapeutinnen gehören in das Kooperationsnetzwerk von Vulvasprechstunden. Die Bereitschaft von niedergelassenen Gynäkologen, betroffene Frauen zur Zweitmeinung in eine Spezialsprechstunde zu schicken, ist viel grösser geworden. Insofern sind Gynäkologen längst sensibilisiert für Erkrankungen der Vulva und sie haben den Anspruch, weiterhelfen zu wollen, sei es durch Weiterbildung und Verbesserung der eigenen Kompetenz oder durch Anbindung an eine spezialisierte Sprechstunde. Es erfolgte zudem eine Vereinheitlichung der Nomenklatur bei den Präkanzerosen seitens der federführenden internationalen Gesellschaften wie WHO und ISSVD, sodass den Frauen unnötige Biopsien und Übertherapien erspart werden (Tab. 1).</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Leading Opinions_Gyn_1801_Weblinks_lo_gyn_1801_s8_abb1.jpg" alt="" width="1051" height="753" /></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Leading Opinions_Gyn_1801_Weblinks_lo_gyn_1801_s9_tab1.jpg" alt="" width="1417" height="884" /></p> <h2>Was wird in Zukunft aktuell sein?</h2> <p>Die wesentliche und dringliche Herausforderung an die Gynäkologie besteht in der Etablierung und Validierung einer Früherkennung von chronischen Erkrankungen der Vulva und der Prävention von Malignomen und deren Präkanzerosen. Zur Prävention von HPV-assoziierten Läsionen könnte neben der Impfung ein HPV-basiertes Screening analog zum Zervixkarzinom eine Option sein. Für die Lichen- sclerosus-assoziierten Malignome scheinen nach Daten aus Australien eine Früherkennung und eine Erhaltungstherapie mit Kortikoiden präventiv zu sein, eine Bestimmung der p53-Mutation würde helfen, die Patientinnen mit Risiko für Malignome zu erkennen. Allerdings ist die Frühdiagnostik des Lichen sclerosus noch immer eine Herausforderung, für den Kliniker ebenso wie für den Pathologen. Zwar kann ein Score die Wahrscheinlichkeit für einen Lichen sclerosus ermitteln und den Frauen oft eine Biopsie ersparen, es müssen aber bereits deutliche Veränderungen am Genitale vorliegen, um eine Diagnose stellen zu können (Tab. 2).<br /> Die Vulva wird sich als eigenständiges Organ mehr in der kulturellen Wahrnehmung behaupten, allerdings hält sie ihren Einzug in die Aufklärung oder den Sexualunterricht nur zögerlich. Für die Ärzte gibt es durchaus noch Basisarbeit zu leisten, wie z.B. die Erstellung eines Leitfadens zur Diagnostik, auch wenn sich die Fachliteratur zur Vulva in den letzten Jahren bereits deutlich verbessert hat. Interdisziplinäre Sprechstunden werden sich zunehmend etablieren, da viele Vulvaerkrankungen mit Veränderungen der Haut auch ausserhalb des Genitales einhergehen.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Leading Opinions_Gyn_1801_Weblinks_lo_gyn_1801_s9_tab2.jpg" alt="" width="1418" height="1304" /></p></p>
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<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
<div class="collapse" id="collapseLiteratur">
<p><strong>1</strong> Kreklau A et al.: 2018, eingereicht zur Publikation <strong>2</strong> Günthert AR et al.: Physician-administered clinical score of vulvar lichen sclerosus: a study of 36 cases. J Sex Med 2012; 9(9): 2342-50 <strong>3</strong> Naswa S, Marfatia YS: Physician-administered clinical score of vulvar lichen sclerosus: a study of 36 cases. Indian J Sex Transm Dis 2015; 36(2): 174-7</p>
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