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Abklärung des Verdachts auf sexuelle Gewalt

„Das, was wir tun, hat lebenslange Auswirkungen auf die Kinder und ihre Familien!“

<p class="article-intro">Eine professionelle Abklärung und Therapie sowie die fächerübergreifende Zusammenarbeit haben bei sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen höchste Priorität. Daher widmete die Plattform für interdisziplinäre Kinder- und Jugendgynäkologie Österreich (PIKÖ) diesem Thema Mitte Oktober eine eigene Fachtagung in Wien.</p> <hr /> <p class="article-content"><p>Die medizinische Untersuchung, Fotodokumentation und Befunderhebung liefern bei einem Verdacht auf sexuelle Gewalt grundlegende Informationen f&uuml;r die Gesamteinsch&auml;tzung des Falles. Wer diese Aufgabe &uuml;bernimmt, sollte genauestens &uuml;ber die aktuellen rechtlichen Anforderungen an Gutachter Bescheid wissen, um etwaige erforderliche Nachuntersuchungen und damit eine m&ouml;gliche Retraumatisierung der Betroffenen zu vermeiden. Zur Vermittlung der erforderlichen Fachkenntnisse veranstaltet die PIK&Ouml; in regelm&auml;&szlig;igen Abst&auml;nden Fachseminare. Damit soll zuk&uuml;nftig bei Verdacht auf sexuelle Gewalt eine Abkl&auml;rung nach h&ouml;chsten Standards fl&auml;chendeckend in ganz &Ouml;sterreich m&ouml;glich sein.<br /> Dr. Bernd Herrmann, Oberarzt an der Kinderklinik des Klinikums Kassel, betont: &bdquo;Zwei Voraussetzungen m&uuml;ssen bei der medizinischen Abkl&auml;rung gegeben sein: Der Arzt muss in der Lage sein, die Untersuchung f&uuml;r das Kind stressfrei durchzuf&uuml;hren. Au&szlig;erdem muss er fachlich und medizinisch in der Lage sein, das, was er sieht, richtig einzusch&auml;tzen und zu beurteilen. Kein Arzt ist aber durch seine Ausbildung allein f&auml;hig, diese Untersuchung fachgerecht auszuf&uuml;hren!&ldquo; Selbst als Kinder- und Jugendgyn&auml;kologe m&uuml;sse man sich zur Befunderstellung gezielt weiterbilden. Sonst k&ouml;nne man den Kindern nicht gerecht werden und riskiere unter Umst&auml;nden gravierende Fehler, die sich lebenslang auswirken.</p> <h2>Unterst&uuml;tzung mittels enger Kooperation aller involvierten Experten</h2> <p>In &Ouml;sterreich gab es 2016 gem&auml;&szlig; Statistik des Bundeskriminalamtes 595 Anzeigen in Bezug auf (schweren) sexuellen Missbrauch von Unm&uuml;ndigen nach &sect;206 und &sect;207 StGB. &bdquo;Die Dunkelziffer der Delikte liegt erfahrungsgem&auml;&szlig; weit h&ouml;her als die Zahl der tats&auml;chlichen Anzeigen. Es kann davon ausgegangen werden, dass mit der Erh&ouml;hung der Aufkl&auml;rungsquote generell eine Reduktion der Delikte sowie ein sensiblerer gesellschaftlicher Umgang mit diesem Thema zu erzielen sind&ldquo;, zeigt sich PIK&Ouml;-Pr&auml;sidentin Univ.-Doz. Dr. Katharina Schuchter &uuml;berzeugt.<br /> Die &bdquo;&Ouml;sterreichische Pr&auml;valenzstudie zur Gewalt an Frauen und M&auml;nnern&ldquo; des &Ouml;sterreichischen Instituts f&uuml;r Familienforschung von 2011 zeigt bereits gesellschaftliche Ver&auml;nderungen auf: So geben 40,8 % der 51- bis 60-j&auml;hrigen Frauen an, bis zu ihrem 16. Lebensjahr sexuellen &Uuml;bergriffen ausgesetzt gewesen zu sein, wohingegen der Prozentsatz dieser Aussage in der Altersgruppe der heutigen 16- bis 20-j&auml;hrigen Frauen bei 19,6 % liegt. Insgesamt suchten die Befragten als Kinder nur sehr selten Hilfe und Unterst&uuml;tzung von au&szlig;en. Wurde Hilfe in Anspruch genommen, dann dienten vor allem Freunde und die Familie als Anlaufstelle bei Gewalterfahrungen in der Kindheit. Hingegen wurden institutionelle Hilfsangebote kaum in Anspruch genommen.<br /> &bdquo;Die Ergebnisse der Studie verdeutlichen, wie wesentlich es ist, Kinder und Jugendliche bei einem Verdacht auf Missbrauch oder Kenntnis eines Falls zu unterst&uuml;tzen. Gefordert sind insbesondere alle Berufsgruppen, die mit Kindern in Kontakt bzw. in die Abkl&auml;rung von Missbrauchs(verdachts)f&auml;llen involviert sind&ldquo;, so Dr. Schuchter und betont: &bdquo;Eine engmaschige Kooperation von Kinderund Jugend&auml;rzten, Psychologen, Kinderund Jugendschutzeinrichtungen sowie Beh&ouml;rden ist hierbei unabdingbar &ndash; wir setzen uns daf&uuml;r ein, diese mittels unseres Netzwerks zu f&ouml;rdern.&ldquo;</p> <h2>Unterst&uuml;tzung aus dem Netzwerk</h2> <p>Sexuelle Gewalt gegen Kinder ist ein Thema, das emotionalisiert und zu Handlungsimpulsen verleitet. &bdquo;Der Weg zur Hilfestellung und hin zum Abschluss kann aber ein sehr langer sein, da die Verdachtslage oft diffus ist. Wenn in dieser Situation eine Anzeige oder Meldung zu schnell erfolgt, kann eine gut gemeinte Handlung in die falsche Richtung gehen. Einzelne Personen &ndash; mitunter auch Fachleute &ndash; sind in einer solchen Situation oft &uuml;berfordert. Wichtig ist es daher, zuerst Hilfe zur Abkl&auml;rung in Anspruch zu nehmen. Es braucht verschiedene Blickwinkel, um dem Kind optimal zu helfen&ldquo;, so Mag. Irene Kautsch, Leiterin des Kinderschutzzentrums &bdquo;die m&ouml;we&ldquo; in St. P&ouml;lten.<br /> F&uuml;r &Auml;rzte besteht bei begr&uuml;ndetem Verdacht auf sexuelle Gewalt gegen Kinder Anzeigepflicht bzw. Meldepflicht an die Kinder- und Jugendhilfe. Oft ist die Lage aber nicht eindeutig und reicht im besten Fall f&uuml;r einen vagen Verdachtsmoment. &bdquo;In Deutschland kann man sich in einer solchen Situation von Kollegen beraten lassen &ndash; es gibt daf&uuml;r eine eigene Telefonhotline f&uuml;r &Auml;rzte. Wichtig ist aber vor allem, dass jeder Arzt f&uuml;r sich ein gutes Netzwerk findet. Die Beratung durch Arztkollegen, aber auch durch Kollegen aus dem psychosozialen Bereich ist unendlich wichtig!&ldquo;, appelliert Dr. Herrmann. Prof. Dr. Sabine V&ouml;lkl-Kernstock, Psychologin, Leiterin der Forensik- und Traumadiagnostik- Ambulanz der Universit&auml;tsklinik f&uuml;r Kinder- und Jugendpsychiatrie Wien, erg&auml;nzt: &bdquo;Jede Kinderabteilung in einer &ouml;sterreichischen Klinik hat eine Kinderschutzgruppe. Bei einer vagen Auff&auml;lligkeit ist auch die &Uuml;berweisung in eine solche Einrichtung eine Option, um das Kind in einem gesch&uuml;tzten Rahmen erst einmal zu beobachten, ohne einen ungerechtfertigten Prozess zu starten.&ldquo; Sie weist zudem auf die forensische Untersuchungsstelle am AKH hin, wo im Rahmen eines Forschungsprojektes auch Kollegen aus anderen Spit&auml;lern und Fachbereichen bei einem Verdacht auf sexuelle Gewalt ihre Patienten f&uuml;r eine multidisziplin&auml;re forensische Abkl&auml;rung zuweisen k&ouml;nnen.</p> <h2>Ist eine Psychotherapie immer sinnvoll?</h2> <p>Mit einer Psychotherapie sollte fr&uuml;hestens nach der kontradiktorischen Einvernahme begonnen werden, um das Verfahren nicht zu beeinflussen. Es stellt sich jedoch die Frage, ob eine Psychotherapie immer sinnvoll ist. Diese Entscheidung sollte immer gemeinsam mit dem Patienten getroffen werden. &bdquo;Wann sich ein Opfer auf eine Therapie einl&auml;sst, kann sehr unterschiedlich sein. Manchmal geschieht dieser Schritt auch erst im Erwachsenenalter, weil man als Kind oder Jugendlicher nach den Untersuchungen, dem Prozess und anderen Formen der Aufarbeitung auch einfach eine Phase der Ruhe haben will&ldquo;, wei&szlig; Prof. V&ouml;lkl-Kernstock. Es w&auml;re daher wichtig, auch bei belastenden Ereignissen, die Jahre zur&uuml;ckliegen, den mittlerweile Erwachsenen unkompliziert Zugang zu Unterst&uuml;tzung zu erm&ouml;glichen. Nicht jedes Kind brauche sofort eine Psychotherapie und sei bereit daf&uuml;r. Es gebe viele Interventionen, die nicht griffen, weil sie nicht entsprechend oder zum falschen Zeitpunkt gesetzt w&uuml;rden.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Jatros_Neuro_1706_Weblinks_jatros_neuro_1706_s34_text.jpg" alt="" width="749" height="995" /></p></p> <p class="article-quelle">Quelle: Fachtagung „Sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen“, 12. Oktober 2017, Wien </p>
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