©
themacx
E+
„Das, was wir tun, hat lebenslange Auswirkungen auf die Kinder und ihre Familien!“
Jatros
30
Min. Lesezeit
14.12.2017
Weiterempfehlen
<p class="article-intro">Eine professionelle Abklärung und Therapie sowie die fächerübergreifende Zusammenarbeit haben bei sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen höchste Priorität. Daher widmete die Plattform für interdisziplinäre Kinder- und Jugendgynäkologie Österreich (PIKÖ) diesem Thema Mitte Oktober eine eigene Fachtagung in Wien.</p>
<hr />
<p class="article-content"><p>Die medizinische Untersuchung, Fotodokumentation und Befunderhebung liefern bei einem Verdacht auf sexuelle Gewalt grundlegende Informationen für die Gesamteinschätzung des Falles. Wer diese Aufgabe übernimmt, sollte genauestens über die aktuellen rechtlichen Anforderungen an Gutachter Bescheid wissen, um etwaige erforderliche Nachuntersuchungen und damit eine mögliche Retraumatisierung der Betroffenen zu vermeiden. Zur Vermittlung der erforderlichen Fachkenntnisse veranstaltet die PIKÖ in regelmäßigen Abständen Fachseminare. Damit soll zukünftig bei Verdacht auf sexuelle Gewalt eine Abklärung nach höchsten Standards flächendeckend in ganz Österreich möglich sein.<br /> Dr. Bernd Herrmann, Oberarzt an der Kinderklinik des Klinikums Kassel, betont: „Zwei Voraussetzungen müssen bei der medizinischen Abklärung gegeben sein: Der Arzt muss in der Lage sein, die Untersuchung für das Kind stressfrei durchzuführen. Außerdem muss er fachlich und medizinisch in der Lage sein, das, was er sieht, richtig einzuschätzen und zu beurteilen. Kein Arzt ist aber durch seine Ausbildung allein fähig, diese Untersuchung fachgerecht auszuführen!“ Selbst als Kinder- und Jugendgynäkologe müsse man sich zur Befunderstellung gezielt weiterbilden. Sonst könne man den Kindern nicht gerecht werden und riskiere unter Umständen gravierende Fehler, die sich lebenslang auswirken.</p> <h2>Unterstützung mittels enger Kooperation aller involvierten Experten</h2> <p>In Österreich gab es 2016 gemäß Statistik des Bundeskriminalamtes 595 Anzeigen in Bezug auf (schweren) sexuellen Missbrauch von Unmündigen nach §206 und §207 StGB. „Die Dunkelziffer der Delikte liegt erfahrungsgemäß weit höher als die Zahl der tatsächlichen Anzeigen. Es kann davon ausgegangen werden, dass mit der Erhöhung der Aufklärungsquote generell eine Reduktion der Delikte sowie ein sensiblerer gesellschaftlicher Umgang mit diesem Thema zu erzielen sind“, zeigt sich PIKÖ-Präsidentin Univ.-Doz. Dr. Katharina Schuchter überzeugt.<br /> Die „Österreichische Prävalenzstudie zur Gewalt an Frauen und Männern“ des Österreichischen Instituts für Familienforschung von 2011 zeigt bereits gesellschaftliche Veränderungen auf: So geben 40,8 % der 51- bis 60-jährigen Frauen an, bis zu ihrem 16. Lebensjahr sexuellen Übergriffen ausgesetzt gewesen zu sein, wohingegen der Prozentsatz dieser Aussage in der Altersgruppe der heutigen 16- bis 20-jährigen Frauen bei 19,6 % liegt. Insgesamt suchten die Befragten als Kinder nur sehr selten Hilfe und Unterstützung von außen. Wurde Hilfe in Anspruch genommen, dann dienten vor allem Freunde und die Familie als Anlaufstelle bei Gewalterfahrungen in der Kindheit. Hingegen wurden institutionelle Hilfsangebote kaum in Anspruch genommen.<br /> „Die Ergebnisse der Studie verdeutlichen, wie wesentlich es ist, Kinder und Jugendliche bei einem Verdacht auf Missbrauch oder Kenntnis eines Falls zu unterstützen. Gefordert sind insbesondere alle Berufsgruppen, die mit Kindern in Kontakt bzw. in die Abklärung von Missbrauchs(verdachts)fällen involviert sind“, so Dr. Schuchter und betont: „Eine engmaschige Kooperation von Kinderund Jugendärzten, Psychologen, Kinderund Jugendschutzeinrichtungen sowie Behörden ist hierbei unabdingbar – wir setzen uns dafür ein, diese mittels unseres Netzwerks zu fördern.“</p> <h2>Unterstützung aus dem Netzwerk</h2> <p>Sexuelle Gewalt gegen Kinder ist ein Thema, das emotionalisiert und zu Handlungsimpulsen verleitet. „Der Weg zur Hilfestellung und hin zum Abschluss kann aber ein sehr langer sein, da die Verdachtslage oft diffus ist. Wenn in dieser Situation eine Anzeige oder Meldung zu schnell erfolgt, kann eine gut gemeinte Handlung in die falsche Richtung gehen. Einzelne Personen – mitunter auch Fachleute – sind in einer solchen Situation oft überfordert. Wichtig ist es daher, zuerst Hilfe zur Abklärung in Anspruch zu nehmen. Es braucht verschiedene Blickwinkel, um dem Kind optimal zu helfen“, so Mag. Irene Kautsch, Leiterin des Kinderschutzzentrums „die möwe“ in St. Pölten.<br /> Für Ärzte besteht bei begründetem Verdacht auf sexuelle Gewalt gegen Kinder Anzeigepflicht bzw. Meldepflicht an die Kinder- und Jugendhilfe. Oft ist die Lage aber nicht eindeutig und reicht im besten Fall für einen vagen Verdachtsmoment. „In Deutschland kann man sich in einer solchen Situation von Kollegen beraten lassen – es gibt dafür eine eigene Telefonhotline für Ärzte. Wichtig ist aber vor allem, dass jeder Arzt für sich ein gutes Netzwerk findet. Die Beratung durch Arztkollegen, aber auch durch Kollegen aus dem psychosozialen Bereich ist unendlich wichtig!“, appelliert Dr. Herrmann. Prof. Dr. Sabine Völkl-Kernstock, Psychologin, Leiterin der Forensik- und Traumadiagnostik- Ambulanz der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Wien, ergänzt: „Jede Kinderabteilung in einer österreichischen Klinik hat eine Kinderschutzgruppe. Bei einer vagen Auffälligkeit ist auch die Überweisung in eine solche Einrichtung eine Option, um das Kind in einem geschützten Rahmen erst einmal zu beobachten, ohne einen ungerechtfertigten Prozess zu starten.“ Sie weist zudem auf die forensische Untersuchungsstelle am AKH hin, wo im Rahmen eines Forschungsprojektes auch Kollegen aus anderen Spitälern und Fachbereichen bei einem Verdacht auf sexuelle Gewalt ihre Patienten für eine multidisziplinäre forensische Abklärung zuweisen können.</p> <h2>Ist eine Psychotherapie immer sinnvoll?</h2> <p>Mit einer Psychotherapie sollte frühestens nach der kontradiktorischen Einvernahme begonnen werden, um das Verfahren nicht zu beeinflussen. Es stellt sich jedoch die Frage, ob eine Psychotherapie immer sinnvoll ist. Diese Entscheidung sollte immer gemeinsam mit dem Patienten getroffen werden. „Wann sich ein Opfer auf eine Therapie einlässt, kann sehr unterschiedlich sein. Manchmal geschieht dieser Schritt auch erst im Erwachsenenalter, weil man als Kind oder Jugendlicher nach den Untersuchungen, dem Prozess und anderen Formen der Aufarbeitung auch einfach eine Phase der Ruhe haben will“, weiß Prof. Völkl-Kernstock. Es wäre daher wichtig, auch bei belastenden Ereignissen, die Jahre zurückliegen, den mittlerweile Erwachsenen unkompliziert Zugang zu Unterstützung zu ermöglichen. Nicht jedes Kind brauche sofort eine Psychotherapie und sei bereit dafür. Es gebe viele Interventionen, die nicht griffen, weil sie nicht entsprechend oder zum falschen Zeitpunkt gesetzt würden.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Jatros_Neuro_1706_Weblinks_jatros_neuro_1706_s34_text.jpg" alt="" width="749" height="995" /></p></p>
<p class="article-quelle">Quelle: Fachtagung „Sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen“,
12. Oktober 2017, Wien
</p>
Das könnte Sie auch interessieren:
Wenige Betten in den Spitälern
Seit 2008 ist die Zahl der Spitalbetten in der Schweiz kontinuierlich gesunken. Leading Opinions macht einen Vergleich mit anderen Ländern.
Gesundheitsberufe: Frauen öfter von Burnout betroffen
Eine Studie zeigt, dass weibliches Gesundheitspersonal wesentlich öfter von Stress und Burnout betroffen ist als die Männer in der Branche.
Erneut Kritik an Heilmittelgesetz
Das Vernehmlassungsverfahren zu geplanten Änderungen im Heilmittelgesetz hat in diesen Tagen geendet. Aus der Ärzteschaft kommt Kritik an Plänen des Bundes.