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Stolpersteine für die Versorgung von Epilepsie-Patienten

<p class="article-intro">Beim Kongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie in Leipzig im September 2017 konnte sich der Besucher einen Überblick über viele aktuelle Standards und neue Perspektiven im Fachgebiet verschaffen. Auch problematische, für den praktischen Alltag relevante Fragestellungen wurden diskutiert, zum Beispiel in der Epileptologie.</p> <hr /> <p class="article-content"><p>Anfallstageb&uuml;cher zur Dokumentation von epileptischen Anfallsereignissen sind ungenau. Nach einer Video-EEGStudie von Priv.-Doz. Dr. Christian Hoppe von der Klinik f&uuml;r Epileptologie der Universit&auml;t Bonn wird nur jeder zweite Anfall in Tageb&uuml;chern dokumentiert und die Anfallskalender sind bei zwei von drei Patienten unvollst&auml;ndig.<sup>1</sup> Dabei werden aufgrund solcher Anfallskalender Therapieentscheidungen getroffen und Einschr&auml;nkungen hinsichtlich Beruf und F&uuml;hrerschein vorgenommen. Eine ungenaue Dokumentation geben Patienten und Angeh&ouml;rige auch f&uuml;r die Studiensituation an (Abb. 1<sup>2</sup>). Dennoch werden auf Basis von selbst berichteter Anfallsfrequenz Therapiestudien bewertet und Zulassungen erteilt. Selbst eine t&auml;gliche Erinnerung an die Anfallsdokumentation l&ouml;ste in einer Studie das Problem der teilweise nicht dokumentierten Anf&auml;lle nicht, betonte Dr. Hoppe. Das Problem: Patienten mit Epilepsie realisieren anfallsbedingt einfach nicht, dass sie gerade einen Anfall hatten. Das gilt insbesondere f&uuml;r n&auml;chtliche Anf&auml;lle. Auch viele Apps auf dem Mobiltelefon k&ouml;nnen das nicht &auml;ndern, weil sie auf die Eingabe des Anwenders angewiesen sind. Wie praxisrelevant das ist, zeigte eine ambulante EEG-Studie: Bei 21 von 57 vermeintlich anfallsfreien Patienten waren doch Anfallsereignisse nachzuweisen, 20 dieser 21 Patienten fuhren regelm&auml;&szlig;ig Auto.<sup>3</sup></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Jatros_Neuro_1706_Weblinks_jatros_neuro_1706_s24_abb1.jpg" alt="" width="1417" height="1095" /></p> <h2>Automatische Anfallsdetektion ist weiter Zukunftsmusik</h2> <p>Um Anf&auml;lle automatisiert festzustellen, k&ouml;nnen tonische und klonische Muskelkontraktionen, Atembewegungen und Atemfluss, Herzaktivit&auml;t oder Schwei&szlig;sekretion gemessen werden. Erste mobile Ger&auml;te sind auf dem Markt. So unterscheidet Epi- Care<sup>&reg;</sup> free mit einem Handgelenkssensor akzelerometrisch normale Bewegungen von solchen bei einem generalisierten tonisch- klonischen Anfall. Die Sensitivit&auml;t lag in einer Studie bei 89,7 % , die Falschpositiv- Rate war mit 0,2 pro 24 Stunden relativ gering. Allerdings h&auml;lt Priv.-Doz. Dr. Rainer Surges, Aachen, die Methode noch nicht f&uuml;r ausreichend valid. In der Studie war die Stichprobengr&ouml;&szlig;e klein und es traten nur wenige Anfallsereignisse auf. Auch ein Im-Ohr-System mit Photoplethysmographie, Temperatursensor und Akzelerometer, das er selber untersucht, ist noch nicht ann&auml;hrend marktreif, weil viele Artefakte auftreten. Ein T&uuml;binger Team testet ein EKG-Brustgurtsystem, das in einer Vorstudie 73 % der fokalen und 70 % der generalisierten Anf&auml;lle in der Nacht identifizieren konnte. R&auml;tsel geben aber individuelle Unterschiede auf: W&auml;hrend bei einer ganzen Reihe von Patienten jeder Anfall von dem System dokumentiert wurde, zeigte es bei anderen Patienten mehrere oder sogar die Mehrzahl der Anf&auml;lle nicht an. Auch die Falsch-positiv-Rate war noch zu hoch. F&uuml;r Dr. Surges ist wegen der fehlenden umfassenden klinischen Evaluation der Ger&auml;te zur automatischen Anfallserfassung derzeit noch kein einziges empfehlenswert.</p> <h2>Drohen weitere Einschr&auml;nkungen f&uuml;r Valproat?</h2> <p>Das Antikonvulsivum Valproat ist einerseits hochwirksam zur Anfallskontrolle bei Epilepsie, auf der anderen Seite nachweislich teratogen. In Frankreich sieht sich das pharmazeutische Unternehmen Sanofi derzeit einer Massenklage von mehreren tausend Betroffenen gegen&uuml;ber, weil &Auml;rzte und Patienten nicht ausreichend &uuml;ber die Risiken von Valproat in der Schwangerschaft informiert worden seien, berichtete Prof. Dr. Bettina Schmitz vom Vivantes Humboldt-Klinikum Berlin. Nach dem seit 1999 bestehenden EURAP-Register mit inzwischen 12 892 abgeschlossenen Beobachtungen von Schwangerschaften und antikonvulsiver Therapie liegt die Rate f&uuml;r eine gro&szlig;e Fehlbildung unter Valproat je nach Dosierung zwischen 5,6 % (&lt;700mg/ Tag) und 24,2 % (&ge;1500mg/Tag). Zwar erh&ouml;hen auch andere Antiepileptika das Risiko f&uuml;r gro&szlig;e Fehlbildungen dosisabh&auml;ngig, jedoch in deutlich geringerem Ma&szlig;e: F&uuml;r Carbamazepin gab Prof. Schmitz eine Rate von 3,4 % (&lt;400mg/Tag) bis 8,7 % (&ge;1000mg/Tag) und f&uuml;r Lamotrigin von 2 % bei einer Dosis von &lt;300mg/Tag und 4,5 % bei einer h&ouml;heren Dosis an. Daneben haben sich die Belege verdichtet, dass Kinder mit Valproatexposition im Mutterleib ein erh&ouml;htes Risiko f&uuml;r Autismus- Spektrum-St&ouml;rung und Kindheitsautismus, Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivit&auml;tsst&ouml;rung, Entwicklungsverz&ouml;gerungen und Intelligenzminderung haben. Auf der anderen Seite gilt Valproat als das Antikonvulsivum mit der h&ouml;chsten Wirksamkeit bei generalisierten Anf&auml;llen, und das auch in der Schwangerschaft, in der Anfallsereignisse nicht nur die Mutter, sondern auch den Fetus gef&auml;hrden k&ouml;nnen. Deshalb erwartet Prof. Schmitz kein Aus f&uuml;r das Antikonvulsivum in der EU, vermutet aber weitere Einschr&auml;nkungen.</p> <h2>Neue EU-weite Ma&szlig;nahmen nach dem Jahreswechsel erwartet</h2> <p>Seit 2014 empfiehlt die Europ&auml;ische Arzneimittelagentur EMA den Einsatz bei Frauen im geb&auml;rf&auml;higen Alter wie auch bei M&auml;dchen erst, wenn andere Therapien versagt haben. Es wird seitdem die schriftliche Best&auml;tigung der Zustimmung der Patientin zur Therapie empfohlen.<sup>4</sup> In Deutschland wurde im April 2017 eine mit einer &bdquo;blauen Hand&ldquo; versehene Patientenkarte als weitere Risikominimierungsma&szlig;nahme f&uuml;r Valproat enthaltende Arzneimittel eingef&uuml;hrt.<sup>5</sup> Sie liegt jeder Originalpackung bei, um Schwangere, weibliche Jugendliche und Frauen im geb&auml;rf&auml;higen Alter, aber auch M&auml;nner an die potenziellen Risiken der Valproattherapie bei Kinderwunsch zu erinnern.</p> <p>Am 24. September fand in London eine &ouml;ffentliche Anh&ouml;rung der europ&auml;ischen Arzneimittelagentur EMA und ihres Pharmakovigilanzkomitees PRAC statt.<sup>6</sup> Zu Wort kamen sowohl Patientenvertreter, Angeh&ouml;rige und Betreuer als auch &Auml;rzte, Pharmazeuten, Wissenschaftler und Pflegekr&auml;fte. Dabei wurde ein immer noch sehr unterschiedliches Niveau von Aufkl&auml;rungsma&szlig;nahmen in den EU-Mitgliedsl&auml;ndern deutlich. Bis Januar 2018 wollen PRAC und EMA Ma&szlig;nahmen zur Verbesserung der Sicherheit der Therapie mit Valproat-haltigen Medikamenten beschlie&szlig;en (vgl. Tab. 1).</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Jatros_Neuro_1706_Weblinks_jatros_neuro_1706_s25_tab1.jpg" alt="" width="1417" height="991" /></p> <h2>Ungeeignete Therapie beim Status epilepticus</h2> <p>Eine Befragung von ambulanten Patienten an Epilepsiezentren in Frankfurt und Marburg deutet darauf hin, dass sehr oft ungeeignete Benzodiazepine mit langsamer Absorption bei oraler Gabe als Notfallmedikament bei Status epilepticus (SE) verordnet werden.<sup>7</sup> Von 481 Patienten berichteten 77 (16 % ) von einem SE in der Vorgeschichte, 134 (28 % ) gaben an, im Vorjahr die Verordnung f&uuml;r ein Notfallmedikament erhalten zu haben. Am h&auml;ufigsten waren dies Lorazepam-Schmelztabletten sublingual (n=88, 66 % , mittlere Dosis 1,6mg), Midazolaml&ouml;sung bukkal (n=32, 24 % ; 7,5mg) und Diazepam rektal (n=24, 18 % ; 10,2g). Lorazepam wird als Notfallmedikament bei SE vorrangig in der i.v. Applikation empfohlen, da es bei oraler Gabe eine Vorlaufzeit von etwa 30 Minuten hat. Midazolam bukkal ist nur bis zum 18. Lebensjahr zugelassen, Midazolam intranasal wird h&auml;ufig angewendet, ist aber gar nicht als Notfallmedikation bei SE zugelassen.<sup>4</sup></p></p> <p class="article-quelle">Quelle: 90. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie, 20.–23. September 2017, Leipzig </p> <p class="article-footer"> <a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a> <div class="collapse" id="collapseLiteratur"> <p><strong>1</strong> Hoppe C et al.: Epilepsy: accuracy of patient seizure counts. Arch Neurol 2007; 64: 1595-9 <strong>2</strong> Blachtu B et al.: Subjective seizure counts by epilepsy clinical drug trial participants are not reliable. Epilepsy Behav 2017; 67: 122-7 <strong>3</strong> Fattouch J et al.: Epilepsy, unawareness of seizures and driving license: the potential role of 24-hour ambulatory EEG in defining seizure freedom. Epilepsy Behav 2012; 25: 32-5 <strong>4</strong> Elger E et al.: Leitlinien f&uuml;r Diagnostik und Therapie in der Neurologie. Erster epileptischer Anfall und Epilepsien im Erwachsenenalter. Entwicklungsstufe S1. Stand 30.04.2017. http://www.awmf.org/leitlinien/ detail/ll/030-041.html <strong>5</strong> Patientenkarte als weitere, die bisherigen Ma&szlig;nahmen erg&auml;nzende Risikominimierungsma&szlig;nahme f&uuml;r Valproat enthaltende Arzneimittel; https://www.bfarm.de/SharedDocs/Downloads/DE/Arzneimittel/ Pharmakovigilanz/Risikoinformationen/RisikoBew Verf/s-z/valproat_patientenkarte_anlage.docx;jsessionid =E0D1D7E2AB114A200C99F973305C6024.1_cid329?__ blob=publicationFile&amp;v=4 <strong>6</strong> &Ouml;ffentliche Anh&ouml;rung des Pharmacovigilance Risk Assessment Committee (PRAC) am 26. September 2017; http://www.ema.europa.eu/ema/ index.jsp?curl=pages/news_and_events/news/2017/09/ news_detail_002816.jsp&amp;mid=WC0b01ac058004d5c1 <strong>7</strong> Kadel J et al.: Einsatz von Notfallmedikamenten bei Erwachsenen mit Epilepsie. DGN 2017, Abstract P 820</p> </div> </p>
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