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Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft für Urogynäkologie und rekonstruktive Beckenbodenchirurgie (AUB)

Tradition und Zukunftsperspektiven

<p class="article-intro">In diesem Jahr hatte die AUB ihre Mitglieder vom 29. bis 30. September nach Zell am See eingeladen. Das Team um Tagungspräsident Prim. Dr. Oliver Preyer vom Tauernklinikum Zell am See konnte nach den beiden Tagen auf eine gelungene Veranstaltung zurückblicken. Den rund 150 Teilnehmern wurde ein straffes Programm mit Fortbildungsmodulen, praxisrelevanten Vorträgen und Posterdiskussionen geboten. Neben den fachbezogenen Themen ging es dabei auch um die Geschichte und die Zukunft der Urogynäkologie.</p> <p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>Beckenbodenprobleme sind &auml;hnlich h&auml;ufig wie der Bluthochdruck. Daher sollte man sich damit befassen.</li> <li>Die Risikofaktoren daf&uuml;r werden immer besser untersucht und umfassen neben Alter, Parit&auml;t und &Uuml;bergewicht auch sozio&ouml;konomische Faktoren.</li> <li>Die Bev&ouml;lkerung wird immer &auml;lter (und adip&ouml;ser), was zu vermehrten St&ouml;rungen des Beckenbodens f&uuml;hren wird.</li> <li>&bdquo;Big data&ldquo; erm&ouml;glicht es, mit geringerem Aufwand als bei populationsbezogenen Studien Daten zu erheben und auszuwerten.</li> </ul> </div> <p>Auf eine Reise durch die Geschichte der Urogyn&auml;kologie nahm Ao. Univ.- Prof. Dr. Karl Tamussino, Graz, das Auditorium mit. Er begann mit dem US-amerikanischen Arzt J. Marion Sims, einem der Pioniere der Urogyn&auml;kologie und gyn&auml;kologischen Chirurgie, dessen Verdienst es war, Ende des 19. Jahrhunderts gyn&auml;kologische Fisteln systematisch zu operieren. Von diesem schlug Tamussino den Bogen nach &Ouml;sterreich, das zahlreiche bedeutende Gyn&auml;kologen und Pioniere der Urogyn&auml;kologie hervorgebracht hat. Dazu z&auml;hlt neben anderen Ernst Wertheim, einer der V&auml;ter der modernen Chirurgie und der radikalen Hysterektomie. Ber&uuml;hmt wurde er durch die erweiterte abdominale Operation des Zervixkarzinoms, die bis heute Bestand hat. Ein weiterer Pionier der Urogyn&auml;kologie war der Wiener Arzt Wilhelm Latzko mit seiner Technik des Verschlusses der Posthysterektomiefistel. 1938 emigrierte Latzko zun&auml;chst nach Brasilien, sp&auml;ter in die USA, wo er ebenfalls sehr erfolgreich arbeitete.<br /> Als weiteren Meilenstein bezeichnete Tamussino die von John C. Burch 1961 in den USA entwickelte und nach ihm benannte Technik der Kolposuspension. &bdquo;Dies war ein abdominaler Zugang zur Inkontinenz, was schon revolution&auml;r war, und es war auch ein abdominaler Zugang zum Prolaps, was uns nicht mehr so bewusst ist&ldquo;, sagte Tamussino.<br /> In neuerer Zeit sei vor allem die Klassifikation f&uuml;r den Uterusprolaps durch die International Incontinence Society, der ICS POP-Q, zu erw&auml;hnen. Sie sei zwar nicht perfekt, aber im Gegensatz zu fr&uuml;heren Beschreibungen ein objektives Ma&szlig;, und dies sei wichtig, vor allem f&uuml;r Studien.</p> <h2>Chirurgische Verfahren: TVT und Mesh</h2> <p>&bdquo;Ein gro&szlig;er Schritt nach vorn war die Einf&uuml;hrung eines Polypropylenbands unter die mittlere Harnr&ouml;hre in Lokalan&auml;sthesie, die 1996 erstmals beschrieben wurde&ldquo;, sagte Tamussino.<sup>1</sup> Die Industrie griff dieses Verfahren auf und vermarktete es ab 1998 unter der Bezeichnung TVT (&bdquo;tension-free vaginal tape&ldquo;). Das Interessante daran sei, dass die Methode ohne randomisierte Studien, nur auf Basis von vier Publikationen eingesetzt wurde, betonte er. Die AUB hatte damals die Vorbereitungen f&uuml;r eine randomisierte Studie bereits abgeschlossen, konnte aber keine Patienten f&uuml;r die Randomisierung gewinnen. Die Betroffenen und ihre &Auml;rzte wollten nur noch das neue Verfahren haben. Daraufhin baute die AUB ein Register auf, in dem Daten zu den perioperativen Faktoren und den Komplikationen der TVTImplantation erfasst wurden. Mithilfe vieler Spit&auml;ler konnten Daten von etwa 5000 Eingriffen gesammelt werden.<br /> 2001 beschrieb Emmanuel Delorme statt des retropubischen Zugangs den Zugang durch das Foramen obturatum.<sup>2</sup> Auch das TOT (&bdquo;transobturator vaginal tape&ldquo;) wurde ohne randomisierte Studien eingesetzt. Wiederum stellte die AUB ein Register auf, in das die Daten von rund 2500 Operationen einflossen. Die Ergebnisse des TOT sind mit denen des TVT vergleichbar, man stellte jedoch fest, dass es bei den verschiedenen Systemen unterschiedliche Komplikationen gibt. So habe man aufgrund der Erfahrungen mit dem TVT nicht erwartet, dass es bei verschiedenen TOT-Systemen zu infekti&ouml;sen Komplikationen wie Abszessen kommen k&ouml;nnte, sagte Tamussino. Es waren jedoch in 4 % der F&auml;lle nach TOT Reoperationen aufgrund von Abszessen notwendig.<br /> Von 2000 bis 2008 war die hohe Zeit f&uuml;r Netze (Meshes). Einerseits hatten die Urogyn&auml;kologen wegen der guten Erfahrungen mit dem TVT weniger Scheu, auch bei einem Beckenorganprolaps Fremdmaterial einzusetzen. Au&szlig;erdem wurden Polypropylennetze bereits in der Chirurgie bei Hernienoperationen erfolgreich angewandt. Andererseits legten mehrere Studien zur Epidemiologie und Therapie des Descensus uteri nahe, dass die Erfolgsraten der bisherigen Operationsverfahren recht niedrig seien. &bdquo;In der Prolapschirurgie ist es schwierig zu sagen, was erfolgreich ist und was nicht. Erfolg kann anatomisch oder funktionell definiert werden&ldquo;, erkl&auml;rte Tamussino. &bdquo;Anders als in den erw&auml;hnten Studien hatten wir nicht den Eindruck, dass wir 30 Prozent unserer Patientinnen mit Prolaps erneut operieren m&uuml;ssen. Wir haben die Zehnjahresdaten im Krankenhaus der Barmherzigen Br&uuml;der erhoben und festgestellt, dass nur drei Prozent erneut operiert werden mussten&ldquo;, betonte er. Dennoch h&auml;tten die Studien dazu gef&uuml;hrt, das Konzept der Descensusbehandlung zu &uuml;berdenken. &bdquo;Politisch hat man dar&uuml;ber hinaus in den 1990er-Jahren in den USA beschlossen, eine Subspezialisierung ,urogynecology &amp; female pelvic health&lsquo; ins Leben zu rufen, die aber dann nur &sbquo;female pelvic health&lsquo; hei&szlig;en durfte&ldquo;, so Tamussino. Die in dieser Subdisziplin arbeitenden &Auml;rzte verlangten nach neuen Operationen. All dies habe dazu gef&uuml;hrt, dass Polypropylennetze f&uuml;r die Prolapschirurgie entwickelt wurden. Die ersten dazu ver&ouml;ffentlichten Arbeiten bescheinigten den Netzen hohe anatomische Erfolgsraten. Allerdings habe es keine randomisierten Studien gegeben. Die AUB stellte ein weiteres Register auf und erfasste die Komplikationen. &bdquo;Wir haben ein Spektrum an Komplikationen gefunden, das wir vorher nicht kannten. Es hat Frauen gegeben, die nach Mesh-Implantaten massive Probleme hatten, auch wenn dies nur wenige Patientinnen betraf&ldquo;, sagte Tamussino. &bdquo;2008 hat die FDA eine ,notification&lsquo; herausgegeben, dass bei Mesh-Implantaten Komplikationen auftreten k&ouml;nnen, diese aber selten sind. 2011 folgte die n&auml;chste FDA-Mitteilung, die darauf hinwies, dass die Komplikationen nicht mehr ,selten&lsquo; sind. Daraufhin haben die Firmen die Vermarktung heruntergefahren und es war mit den Meshes quasi vorbei.&ldquo;</p> <h2>Aktuelles und Zuk&uuml;nftiges</h2> <p>&bdquo;Schon seit etwa zehn Jahren wird &uuml;ber den Einsatz von Stammzellen bei Harninkontinenz diskutiert&ldquo;, sagte Tamussino. Ein R&uuml;ckschlag war, dass eine weltweit beachtete Studie aus Innsbruck wegen Manipulationen zur&uuml;ckgezogen werden musste. &bdquo;Dies hat uns in &Ouml;sterreich einen gro&szlig;en Schaden zugef&uuml;gt&ldquo;, so Tamussino. In der Grazer Universit&auml;tsklinik f&uuml;r Frauenheilkunde und Geburtshilfe besch&auml;ftigt sich Prof. Andrea Frudinger mit Stammzellen zur Behandlung der Stuhlinkontinenz und hat erste gute Resultate erzielt.<sup>3</sup> Derzeit l&auml;uft eine Phase- II-Studie, in die insgesamt 250 Patienten mit Stuhlinkontinenz eingeschlossen werden sollen.<br /> &bdquo;Ein weiteres spannendes neues Behandlungsgebiet sind die Lasertherapien. Es gibt zwar noch nicht viele Daten dazu, aber das Verfahren wird schon vielerorts eingesetzt&ldquo;, erkl&auml;rte Tamussino. &bdquo;Derzeit laufen einige Studien weltweit, die es bei vaginaler Atrophie, Stressinkontinenz und Descensus evaluieren, und es ist wichtig, dass wir als AUB uns diesem Thema widmen, sonst kommt es zu der Situation, dass niedergelassene &Auml;rzte die Behandlung anbieten, ohne zu wissen, ob sie wirksam ist oder nicht sogar sch&auml;dlich&ldquo;, betonte er.<br /> Der medizinische Fortschritt sei nicht unaufhaltsam und kontinuierlich, betonte Tamussino. Viele Methoden seien inzwischen in Vergessenheit geraten, es habe auch zahlreiche Sackgassen gegeben. &bdquo;Was k&ouml;nnen wir daraus lernen?&ldquo;, fragte er. Seine Antwort: &bdquo;Die Urogyn&auml;kologie befindet sich in einem Spannungsfeld zwischen Innovation und Patientensicherheit. Beides ist wichtig.&ldquo; Man k&ouml;nne dieses Spannungsfeld nur durch eine gute Aufkl&auml;rung der Patienten l&ouml;sen. &bdquo;Wir m&uuml;ssen die Patienten aufkl&auml;ren &uuml;ber das, was wir wissen, und &uuml;ber das, was wir nicht wissen, wenn wir eine neue Behandlung einsetzen.&ldquo; Au&szlig;erdem m&uuml;sse man immer kritisch bleiben und auch sich selbst hinterfragen. Tamussino appellierte an die &Auml;rzte und Krankenh&auml;user, geeignete Patienten in Studien einzubringen. &bdquo;Nur so k&ouml;nnen wir die Behandlung unserer Patientinnen verbessern&ldquo;, schloss er.</p> <h2>Zahlen, Zahlen, Zahlen</h2> <p>Einen Blick in die epidemiologische und demografische Zukunft der Urogyn&auml;kologie wagte Prof. Engelbert Hanzal, Wien. Nach einem kurzen Ausflug in die Geschichte ging er auf populationsbezogene Studien und epidemiologische Daten ein. So ermittelten Ingrid Nygaard und Kollegen bereits 2008, dass 15 % aller Frauen aller Altersgruppen an einer Harninkontinenz leiden. Die Pr&auml;valenz der Stuhlinkontinenz liegt laut dieser Untersuchung an 1961 Frauen bei 9 % und die des Beckenorganprolapses bei 3 % . Insgesamt betr&auml;gt die Wahrscheinlichkeit, dass eines oder mehrere dieser Probleme des Beckenbodens vorliegen, bei rund 25 % .<sup>4</sup> &bdquo;Diese Zahlen berechtigen dazu, sich mit Beckenbodenproblemen und Inkontinenz n&auml;her zu besch&auml;ftigen. Diese ,big three&lsquo; &ndash; Harninkontinenz, Stuhlinkontinenz und Beckenorganprolaps &ndash; sind die S&auml;ulen der Urogyn&auml;kologie&ldquo;, sagte Hanzal. Dar&uuml;ber hinaus gebe es weitere, seltener auftretende Beschwerden, die allerdings nicht weniger wichtig seien, betonte er. Nygaard identifizierte in ihrer Studie auch die drei Hauptrisikofaktoren f&uuml;r St&ouml;rungen des Beckenbodens: Alter, Parit&auml;t und Body- Mass-Index (BMI).<sup>4</sup><br /> Diese Studie wurde 2014 im Rahmen des &bdquo;National Health and Nutrition Examination Survey&ldquo; (NHANES) in den USA repliziert. Das NHANES-Programm wertet in regelm&auml;&szlig;igen Abst&auml;nden Erhebungen zur Gesundheit, Ern&auml;hrung etc. aus. In die Untersuchung &uuml;ber St&ouml;rungen des Beckenbodens flossen die Daten von mehr als 7900 Frauen ein. Das Ergebnis ist fast identisch mit dem der Nygaard-Studie.<sup>5</sup> Die NHANES-Resultate erlaubten auch, weitere Risikofaktoren f&uuml;r das Auftreten einer Inkontinenz zu definieren. Dazu z&auml;hlen die Bildung und das Einkommen. Je geringer die Bildung und/oder das Einkommen, umso h&ouml;her ist das Inkontinenzrisiko. Ein weiterer Aspekt sind Komorbidit&auml;ten, die eine Inkontinenz f&ouml;rdern k&ouml;nnen. Dies habe unter anderem auch mit den Medikamenten zu tun, die die Betroffenen einnehmen, erkl&auml;rte Hanzal. Wenig &uuml;berraschend sei hingegen gewesen, dass der Geburtsmodus ebenfalls eine gro&szlig;e Rolle beim Entstehen einer Inkontinenz spielt, die nach einer vaginalen Geburt h&auml;ufiger auftritt als nach einem Kaiserschnitt. Doch was besagen diese Pr&auml;valenzzahlen? Hanzal zog als Vergleich das weltweit h&auml;ufigste Leiden heran, die Hypertonie. Deren Pr&auml;valenz liegt insgesamt bei 26 % .<sup>6</sup> Dies zeige, dass &ndash; im Gegensatz zur &ouml;ffentlichen Wahrnehmung &ndash; Krankheiten des Beckenbodens ein weit verbreitetes Problem sind, betonte er.</p> <h2>Blick in die Zukunft mit &bdquo;big data&ldquo;</h2> <p>Populationsbezogene Studien sind sehr aufwendig, langwierig und teuer, doch es gibt einen einfacheren Weg: &bdquo;big data&ldquo;. Jeder Mensch hinterl&auml;sst Daten, die gesammelt und gespeichert werden, zum Beispiel in Kliniken, bei Krankenversicherungen oder in speziellen Registern, wie sie etwa in den skandinavischen L&auml;ndern bereits seit Langem gef&uuml;hrt werden. Diese Daten erlauben Analysen und Prognosen f&uuml;r die Zukunft. Anhand von Hochrechnungen der WHO zur Altersentwicklung und der weltweiten Zunahme des BMI &ndash; zwei der Risikofaktoren f&uuml;r Beckenbodenprobleme &ndash; verdeutlichte Hanzal, dass die Pr&auml;valenzen f&uuml;r Stuhl- und Harninkontinenz sowie den Beckenorganprolaps weiter ansteigen werden. Die Urogyn&auml;kologie ist daher eine Disziplin mit Zukunft.</p></p> <p class="article-quelle">Quelle: <strong>•</strong> Special Lecture: Tamussino K: Geschichte und Zukunft der Urogynäkologie – Was sind die ungelösten Probleme? Jahrestagung 2017 der AUB <strong>•</strong> Hanzal E: Die demographische und epidemiologische Zukunft der Urogynäkologie. Jahrestagung 2017 der AUB </p> <p class="article-footer"> <a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a> <div class="collapse" id="collapseLiteratur"> <p><strong>1</strong> Ulmsten U et al: An ambulatory surgical procedure under local anesthesia for treatment of female urinary incontinence. Int Urogynecol J 1996; 7: 81-6 <strong>2</strong> Delorme E: Transobturator urethral suspension: mini-invasive procedure in the treatment of stress urinary incontinence in women. Prog Urol 2001; 11: 1306-13 <strong>3</strong> Frudinger A et al.: Autologous skeletal-muscle-derived cell injection for anal incontinence due to obstetric trauma: a 5-year follow-up of an initial study of 10 patients. Colorectal Dis 2015; 17: 794- 801 <strong>4</strong> Nygaard I et al.: Prevalence of symptomatic pelvic floor disorders in US women. JAMA 2008; 300: 1311-6 <strong>5</strong> Wu JM et al.: Prevalence and trends of symptomatic pelvic floor disorders in U.S. women. Obstet Gynecol 2014; 123: 141-8 <strong>6</strong> Kearney PM et al.: Global burden of hypertension: analysis of worldwide data. Lancet 2005; 365: 217-23</p> </div> </p>
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