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Neurologische Operationsindikation an der Wirbelsäule und Messmöglichkeiten zur Prognosestellung

<p class="article-intro">Die klinisch-neurologische und neurophysiologische Untersuchung ist bei der diagnostischen und prognostischen Einschätzung von Wirbelsäulenerkrankungen in vielen Fällen hilfreich. Moderne elektrophysiologische Methoden erlauben im Zusammenhang mit der Bildgebung mittels MRI und Ultraschall eine funktionelle Testung, die über die anatomische Darstellung weit hinausgeht und eine anatomisch-lokalisatorische Zuordnung sowie die Klärung der Pathogenese unterstützt. Die neurologische Mitbeurteilung kann insofern wesentliche Aspekte zur Therapieentscheidung und Prognosestellung beitragen.</p> <p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>Neurophysiologische Untersuchungen unterst&uuml;tzen die Evaluation einer Operationsindikation durch Objektivierung und Quantifizierung von neurologischen Defiziten.</li> <li>Sie zeigen eine gest&ouml;rte Nervenfunktion direkt und mit neurologisch- topischem Bezug an.</li> <li>Neue Entwicklungen modalit&auml;tsspezifischer evozierter Potenziale erh&ouml;hen die Sensitivit&auml;t und sind der klinischen Untersuchung teilweise &uuml;berlegen.</li> </ul> </div> <p>Die klinisch-neurologische und neurophysiologische Untersuchung bei Wirbels&auml;ulenerkrankungen hat entscheidende Bedeutung f&uuml;r das pr&auml;operative Assessment und in der Indikationsstellung zur chirurgischen Intervention. Zur Planung der Operation m&uuml;ssen orthop&auml;dische, neurologische und radiologische Befunde gewichtet und gegeneinander abgewogen werden. Eine &Uuml;bereinstimmung von Befunden der drei Fachgebiete ist nicht immer gegeben. Neben konservativ nicht beherrschbaren Schmerzen sind neurologische Ausf&auml;lle durch Nerven- oder R&uuml;ckenmarkskompression ein unabh&auml;ngiger und somit entscheidender Faktor f&uuml;r die Indikationsstellung. Eine Quantifizierung neurologischer Defizite ist sowohl f&uuml;r die operative Planung des Zugangs und die Lokalisation als auch im Fall erforderlicher Prognoseabsch&auml;tzung bei bereits entstandenen Nervensch&auml;den relevant. Die daf&uuml;r verf&uuml;gbaren Methoden und ihre Wertigkeit werden im folgenden Artikel diskutiert. Die Diskussion der Vorgehensweise erfolgt anhand der h&auml;ufigsten Krankheitsbilder.</p> <p>Die Anzahl der durchgef&uuml;hrten Wirbels&auml;ulenoperationen steigt und damit verbunden das Risiko f&uuml;r Komplikationen am Nervensystem, namentlich Nervenwurzeloder Caudasch&auml;den, seltener R&uuml;ckenmarksverletzungen in Form der Myelopathie. Dabei ist neben der Besserung von Schmerzen die Vermeidung progredienter Nervensch&auml;den das Ziel einer Dekompression bei zervikaler Myelopathie. Nicht selten bestehen Defizite bereits seit l&auml;ngerer Zeit und von fr&uuml;heren Sch&auml;den oder Eingriffen. Unter diesem Aspekt sind die Operationsindikation und das Abw&auml;gen des operativen Risikos gegen die Einsch&auml;tzung des spontanen Verlaufs nicht trivial. Es m&uuml;ssen neurologische Ausf&auml;lle objektiv dokumentiert, quantifiziert sowie zeitlich und anatomisch zugeordnet werden.</p> <p>Die klinisch-neurologische Untersuchung im Hinblick auf traumatische und kompressive Nervensch&auml;den kann verbessert werden durch den Einsatz etablierter neurophysiologischer Methoden und bildgebender Methoden (MRI), die f&uuml;r die jeweilige Lokalisation der vermuteten Sch&auml;digung unterschiedlich sensitiv und hilfreich sind.<sup>1&ndash;3</sup> Die invasive Elektromyografie (EMG) und Neurografie sind spezifische Untersuchungsmethoden zur Diagnostik des peripheren Nervensystems. Evozierte Potenziale sind in der Regel f&uuml;r die Diagnostik sowohl im peripheren wie auch im zentralen Nervenystem hilfreich. F&uuml;r die neurophysiologische Untersuchung muss vorausgeschickt werden, dass eine Sch&auml;digung zwar neuroanatomisch und bedingt auch hinsichtlich des Alters der Sch&auml;digung zugeordnet werden kann, eine &auml;tiologische Zuordnung ist allerdings nicht m&ouml;glich. Das bedeutet, dass Anamnese, klinische Untersuchung und Bildgebung mitentscheidend sind, um eine &auml;tiologische Zuordnung zu treffen. Die neurophysiologischen Untersuchungen stellen eine unterst&uuml;tzende, keine alternative diagnostische Methode dar. Ihr Schwerpunkt liegt in der Objektivierung und Quantifizierung pathologischer Befunde. Im Unterschied zur Bildgebung besteht ihr Vorzug darin, ein unmittelbares Korrelat gest&ouml;rter Nervenfunktionen zu geben.</p> <h2>Indikationsstellung zur Operation</h2> <p><strong>Lumbale Diskushernie und klinisch-neurologische Zeichen</strong><br /> Die Indikation zur operativen Dekompression besteht im Falle von signifikanten neurologischen Defiziten auf der betroffenen segmentalen H&ouml;he. In der Regel findet sich der Conus des R&uuml;ckenmarks auf H&ouml;he der kn&ouml;chernen Segmente Th12 bis L2. Eine Nervensch&auml;digung bei lumbalen Diskushernien manifestiert sich daher in Form von radikul&auml;ren Kompressionssyndromen und betrifft somit in der Regel ausschliesslich das periphere Nervensystem, meist auf H&ouml;he der Wurzelsegmente L4, L5 und S1. Uni- oder bilaterale monosegmentale Defizite &uuml;berwiegen in Form von sensorischen oder sensomotorischen, selten auch rein motorischen radikul&auml;ren Syndromen. Klinisches Korrelat sind ins Segment ausstrahlender Schmerz, segmentaler Reflexausfall, sensibles Defizit f&uuml;r alle Qualit&auml;ten und motorischer Ausfall in Form einer Parese der Kennmuskulatur sowie anderer segmental innervierter Muskulatur.<br /> F&uuml;r die klinische Untersuchung ist die typische Verteilung von Paresen wegweisend. So kann beispielsweise die Unterscheidung der N.-peroneus-Parese von einer L5-Radikulopathie aufgrund einer Parese des M. glutaeus medius rein klinisch erfolgen. Wegen der &uuml;berlappenden mehrsegmentalen Innervation der meisten Beinmuskeln ist eine Plegie bei monosegmentalem Schaden nicht zu erwarten, auch wenn eine schwere oder komplette radikul&auml;re Sch&auml;digung vorliegt. Bei der sensiblen Untersuchung ist die Testung der Algesie sensitiver als die der &Auml;sthesie, da die dermatomale Innervation der Algesie anatomisch weniger &uuml;berlappt.<br /> Bei grossen Vorf&auml;llen kann es zu mehrsegmentalen Ausf&auml;llen bis zum teilweisen oder kompletten Caudasyndrom kommen. Die Caudasch&auml;digung zeigt sich als sensorischer Ausfall im Reithosenareal. Sie muss in der klinischen Untersuchung gezielt durch vergleichende perianale Testung gesucht werden. Eine gezielte Pr&uuml;fung der Algesie perianal sowie die Testung der Sphinkterfunktion in Form von Willk&uuml;rmotorik und Analreflex sind daher obligatorisch. Ferner finden sich in unterschiedlicher Auspr&auml;gung motorische Paresen der lumbosakral innervierten Muskulatur bilateral symmetrisch oder asymmetrisch, gelegentlich nur in Form von Paresen der Fusssenker oder Zehenbeuger. In der Regel besteht eine Blasen- und Mastdarmst&ouml;rung, typischerweise als &Uuml;berlaufinkontinenz mit der Gefahr der Blasen&uuml;berdehnung. Bei Massenvorf&auml;llen zwischen BWK12 und LWK1 ist eine zus&auml;tzliche zentrale neurologische Symptomatik im Sinne einer Conuskompression m&ouml;glich. In diesem Fall ist neben schlaffen motorischen Paresen, Blasen- und Mastdarmst&ouml;rung und Reithosenan&auml;sthesie auch eine Steigerung der Achillessehnenreflexe m&ouml;glich (sogenanntes Epiconus- Syndrom). Eine reine Conus-medullaris- Sch&auml;digung imponiert ausschliesslich durch Reithosenan&auml;sthesie und Blasen- und Mastdarmst&ouml;rung.</p> <p><em>Neurophysiologische Zeichen bei lumbaler Diskushernie mit monoradikul&auml;rer L&auml;sion</em><br /> Die neurophysiologische Methode der Wahl zur Unterst&uuml;tzung der klinisch-neurologischen Untersuchung von radikul&auml;ren Syndromen ist das EMG mit konzentrischer Nadelelektrode. Es handelt sich um eine semiquantitative Methode zur Erfassung typischer elektrischer Zeichen der Denervierung in der segmental betroffenen Muskulatur. Im Bereich der Nadelspitze wird je Insertionsstelle im Einzugsbereich weniger Kubikmillimeter die elektrische Aktivit&auml;t der Muskulatur aufgezeichnet. Der Vorteil der Methode liegt in ihrer eindeutigen Signifikanz f&uuml;r das Vorliegen von akuten Denervierungszeichen, sogenannten positiven scharfen Wellen oder Fibrillationspotenzialen, welche im nicht neurogen gesch&auml;digten Muskel nicht vorkommen. Diese zeigen somit eindeutig eine Nervensch&auml;digung an, auch wenn eine Parese gering erscheint. Somit kann zwischen einer neurapraktischen und einer axonalen Sch&auml;digung unterschieden werden. Ein Nachteil der Methode sind die eingeschr&auml;nkte Quantifizierbarkeit und die Abh&auml;ngigkeit des Untersuchungsergebnisses von der Zahl der untersuchten Stellen und der zuf&auml;lligen Lage der EMG-Nadelspitze. Ein weiteres Problem ist, dass akute motorische Sch&auml;den nicht unmittelbar zu Denervierungszeichen im Nadel-EMG f&uuml;hren. Aufgrund des langsamen Fortschreitens der Waller&rsquo;schen Degeneration entlang des Axons kann es wegen der L&auml;nge der Motoaxone der Beinnerven bis zu 3 Wochen dauern, bis eine akute Wurzelsch&auml;digung zur Degeneration der distalen Axonabschnitte und zur konsekutiven Ver&auml;nderung der distalen motorischen Einheit an Endplatte und Muskelmembran f&uuml;hrt. Ein fr&uuml;hes Zeichen schwerer axonaler Kompromittierung im EMG ist aus den genannten Gr&uuml;nden gegebenenfalls nur die fehlende willk&uuml;rliche Aktivierbarkeit des Muskels. Im Verlauf von Wochen zeigen sich Muskelatrophie und Denervierungszeichen im EMG entsprechend der Schwere der axonalen Sch&auml;digung. Im subakuten Stadium der Denervation erfolgt die semiquantitative Bewertung der Schwere des Befundes als Angabe von betroffenen Insertionen (Nadelpositionen) bezogen auf mindestens 10 Insertionen je untersuchten Muskelabschnitt. Bedingt kann die Methode zwischen alten und frischeren neurogenen Sch&auml;den im Muskel unterscheiden. Insofern ist sie geeignet, axonale Sch&auml;digungszeichen zeitlich und anatomisch zuzuordnen. In der Regel erholen und reduzieren sich Parese und Denervierungszeichen nach Wurzeldekompression. Allerdings k&ouml;nnen Denervierungszeichen in Einzelf&auml;llen lange &uuml;ber die Dekompression hinaus fortbestehen.</p> <p><em>Neurophysiologische Zeichen bei lumbaler Diskushernie und polyradikul&auml;rer L&auml;sion (Caudaund Conussch&auml;digung)</em><br /> Die neurophysiologische Methode der Wahl zur Unterst&uuml;tzung der neurologischen Untersuchung von polyradikul&auml;ren Syndromen und Caudasch&auml;digungen sind neben dem EMG die motorische Neurografie und somatosensibel evozierte Potenziale (sSEP) mittels Stimulation der Nervi tibialis und pudendus.<br /> Bei der motorischen Neurografie erfolgen die Reizung des gemischten Nervs an verschiedenen Stellen seines peripheren Verlaufes und eine Ableitung &uuml;ber standardisierte Zielmuskeln. Im Falle der Nervus- tibialis-Stimulation erfolgt die Ableitung &uuml;ber den M. abductor hallucis mittels Vermessung seiner Amplitude und Latenzen je Stimulationsort. Die motorische Antwort in Form eines &laquo;compound motor action potential&raquo; (cMAP) gibt mit ihrer Amplitude quantitativ Aufschluss &uuml;ber die Anzahl erregbarer motorischer Einheiten. Wegen der mehrsegmentalen Innervation der Zielmuskeln ist aber bei Sch&auml;digung einer einzelnen motorischen Wurzel nicht sicher ein Defizit zu erwarten. Polyradikul&auml;re Sch&auml;den oder Caudasch&auml;den hingegen k&ouml;nnen bedingt so detektiert und quantifiziert werden. Ein axonaler Schaden zeigt sich in Form einer proportionalen Abnahme der Amplitude des cMAP. Hierbei sind der Seitenvergleich oder der Vergleich mit anderen Beinmuskeln entscheidend.<br /> Bei der motorischen Neurografie erscheint als sehr kleines Sp&auml;tpotenzial in der Ableitung die sogenannte F-Welle als Ausdruck antidromer Propagation und Reflexion des elektrischen Reizes im Vorderhorn, deren Erscheinen, Latenz und stochastische H&auml;ufigkeit Aufschluss &uuml;ber die motorische Nervenleitung im proximalen, r&uuml;ckenmarksnahen Abschnitt des Motoaxons gibt. Die F-Welle wurde nach ihrer Erstbeschreibung an der Fussmuskulatur benannt. Die Analyse der F-Wellen ist wertvoll, da sich der proximale Nervenabschnitt im Bereich der Wurzel oder Cauda der direkten neurografischen Untersuchung entzieht. Die Reduktion der F-Wellen- Erregbarkeit oder ihr Ausfall k&ouml;nnen bereits fr&uuml;h das Auftreten einer Caudasch&auml;digung anzeigen, wenn das EMG oder das cMAP der motorischen Neurografie wegen der noch nicht abgeschlossenen Waller&rsquo;schen Degeneration noch keine Ver&auml;nderung zeigen.<br /> Mittels sSEP erfolgt eine Untersuchung der gesamten Afferenz vom Stimulationsort in der Peripherie bis zum sensorischen Cortex. Die Ableitung erfolgt als Summation der auf den peripheren Reiz folgenden synchronisierten elektrischen Hirnstromaktivit&auml;t an der Skalpoberfl&auml;che. Durch eine simultane Ableitung &uuml;ber dem peripheren Nerv und dem R&uuml;ckenmark an standardisierten Ableiteorten ist eine anatomische Lokalisation der Verz&ouml;gerung oder des Ausfalls der Potenziale m&ouml;glich. Eine differenzierte Lokalisationsdiagnostik ist auch durch den Vergleich verschiedener stimulierter Nerven m&ouml;glich. So ist im Fall einer Conussch&auml;digung lediglich ein pathologisches N.-pudendus-sSEP bei erhaltenem N.-tibialis-sSEP zu erwarten. Das N.-pudendus-sSEP ist insofern eine wichtige Diagnostik bei Verdacht auf Cauda- und Conussch&auml;digung und unterscheidet Conus- von Caudasch&auml;den.</p> <p><strong>Lumbale Spinalkanalstenosen</strong><br /> Da es in der Regel zu einer funktionell bedingten Kompression nervaler Strukturen kommt, finden sich neurologische Ausf&auml;lle oder klinische irreversible Zeichen von Nervensch&auml;digung bei lumbalen Spinalkanalstenosen selten. Diese manifestieren sich in Form von funktionell exazerbierenden, ausstrahlenden, par&auml;sthetischen Schmerzen, muskul&auml;rer Schw&auml;che und vorzeitiger Erm&uuml;dung der Beinmuskulatur mit typischer Belastungsabh&auml;ngigkeit. Typisch ist die Zunahme der Beschwerden bei reklinierenden Bewegungen der LWS. Dieser Zusammenhang muss aber nicht zwingend vorhanden sein. Die klassische Anamnese der Claudicatio spinalis kann in ihrer Auspr&auml;gung stark variieren. Eine Seitenbetonung mit ischialgiformer Ausstrahlung im Sinne einer Manifestation als Wurzel-Claudicatio bei zus&auml;tzlichen foraminalen Stenosen ist m&ouml;glich.</p> <p><em>Neurophysiologische Befunde bei lumbaler Spinalkanalstenose</em><br /> Trotz klinischer Zeichen einer polyradikul&auml;ren Irritation sind axonale Sch&auml;den im EMG aus den genannten Gr&uuml;nden in der Regel kaum zu finden. Eine Ausnahme bilden zus&auml;tzlich assoziierte foraminale Stenosen (Wurzel-Claudicatio) mit lange bestehender Nervenkompression. Bei Ableitung motorischer Neurografien k&ouml;nnen ein Ausfall oder eine Verz&ouml;gerung der F-Wellen imponieren. Bei Ableitung der N.-tibialis-stimulierten sSEP f&auml;llt ggf. eine deutliche Laufzeitverl&auml;ngerung auf, die mit einer durch die Kompression bedingten lumbalen Demyelinisierung der Caudafasern erkl&auml;rt werden kann. Analog zur Afferenzverz&ouml;gerung kann bei Ableitung der motorisch evozierten Potenziale mittels transkranieller Magnetstimulation auch eine Efferenzverz&ouml;gerung gefunden werden. Diese ist durch methodische Analyse mittels fraktionierter Messungen (Stimulation kortikal und lumbal, Subtraktion der lumbalen Laufzeiten von denen nach kortikaler Stimulation) lumbal zu lokalisieren.<sup>4</sup></p> <p><strong>Zervikale Spinalkanalstenosen</strong><br /> Die entscheidende Frage bei zervikaler Spinalkanalstenose ist die nach einer Myelopathie. In diesem Falle sind die neurologischen Ausf&auml;lle und klinischen Zeichen die einer diskreten spastischen Tetraparese. Es zeigen sich Tonussteigerung sowie Koordinations- und Feinmotorikst&ouml;rung der Beine, seltener auch der Arme. Im Bereich der Arme und H&auml;nde sind durch die kompressionsbedingte Sch&auml;digung der grauen Substanz auf H&ouml;he des stenotischen Segments schlaff-atrophe Paresen zu finden. Auch zus&auml;tzliche radikul&auml;re Sch&auml;den k&ouml;nnen auf H&ouml;he der Stenose vorliegen. In den darunter liegenden Segmenten imponieren Reflexsteigerung und diskrete Zeichen der Spastizit&auml;t. Sensibel imponiert oft eine diskrete, segmental begrenzte St&ouml;rung der Algesie und der &Auml;sthesie. Lokale Schmerzen auf H&ouml;he des betreffenden Segmentes und eine darunter beginnende dissoziierte St&ouml;rung von Schmerz- und Temperaturwahrnehmung k&ouml;nnen die einzigen Zeichen sein.<sup>2</sup> Ver&auml;nderungen und St&ouml;rungen der Miktionsgewohnheit k&ouml;nnen bestehen und werden oft nicht spontan berichtet. Die klinische Symptomatik kann sehr gering ausgepr&auml;gt sein und nur in Form schleichend zunehmender ausstrahlender par&auml;sthetischer Schmerzen an Armen und Beinen bestehen. Auch hierbei finden sich mitunter muskul&auml;re Schw&auml;che und vorzeitige Erm&uuml;dung der Beinmuskulatur, aber auch funktionelle Einschr&auml;nkungen in Form von Stolperst&uuml;rzen bei Gangunsicherheit und Ataxie.</p> <p><em>Neurophysiologische Befunde bei zervikaler Spinalkanalstenose</em><br /> Zeichen motorisch axonaler Sch&auml;den finden sich im EMG bei hochgradiger Stenose aufgrund einer direkten Sch&auml;digung spinaler Motoneurone durch Kompression im Bereich der grauen Substanz. Diese sind von eventuell zus&auml;tzlich bestehenden radikul&auml;ren Sch&auml;den durch Symmetrie des Befunds und eine zus&auml;tzliche Funktionsst&ouml;rung im Bereich der spinothalamischen Afferenz, klinisch manifest durch Beeintr&auml;chtigung der Schmerz- und Temperaturwahrnehmung, zu unterscheiden. Das elektrophysiologische Korrelat dieser St&ouml;rung l&auml;sst sich mittels spezieller Stimulationstechnik und SEP-Untersuchungen darstellen: Kontakthitze-evozierte Potenziale (&laquo;contact heat evoked potentials&raquo;, CHEP) f&uuml;hren zu spezifischer Erregung dieses Bahnensystems und k&ouml;nnen mittels kortikaler SEP-Ableitung bei spezifisch langer Latenz erfasst werden.<sup>5&ndash;7</sup><br /> Wegweisend f&uuml;r die zervikale Myelopathie ist auch der unmittelbar benachbarte segmentale Befund von atropher und spastischer Parese. Eine elektrophysiologische Untersuchung der zervikalen Myelopathie umfasst daher in der Regel eine systematische Testung aller spinalen Bahnensysteme mittels MEP und SEP und eine neurografische Untersuchung einschliesslich F-Wellen-Testung.<sup>8</sup> Ein EMG kann zus&auml;tzlich hilfreich sein (Abb. 1).<br /> Wegen der klinisch oft geringen Symptomatik<sup>9</sup> hat die Ableitung evozierter Potenziale bei Verdacht auf eine zervikale Myelopathie einen besonderen Stellenwert. Bei radiologischen Befunden einer zervikalen Spinalkanalstenose ohne klinisch eindeutiges Korrelat ist der Nachweis segmentaler axonaler Sch&auml;den oder spinaler Leitungsverz&ouml;gerung anhand neurophysiologischer Messungen als Hinweis auf ein erh&ouml;htes Risiko f&uuml;r Progredienz und die nachfolgende klinische Symptomatik einer Myelopathie zu werten.<sup>10, 11</sup> Die chronische Kompression der aufund absteigenden Tractus im Bereich der weissen Substanz f&uuml;hrt zu lokaler Demyelinisierung und bedingt Verz&ouml;gerungen der sSEP bei Stimulation sensibler Nerven an der oberen und unteren Extremit&auml;t. Mithilfe fraktionierter Ableitung auf verschiedenen H&ouml;hen kann dabei die H&ouml;he der Stenose lokalisiert werden. Eine genauere somatotopische Lokalisation gelingt durch dermatomale Stimulation der sSEP. Eine Verz&ouml;gerung der Potenziale zeigt sich ab dem Segment kranial des obersten betroffenen spinalen Segments.<sup>12, 13</sup><br /> Eine durch Demyelinisierung bedingte Laufzeitverl&auml;ngerung findet sich bei schweren Befunden auch f&uuml;r die Ableitung der motorisch evozierten Potenziale mithilfe der transkraniellen Magnetstimulation. Auch hier zeigen sich typisch verz&ouml;gerte Potenziale. Verz&ouml;gert ist spezifisch die zentralmotorische Laufzeit, welche durch Subtraktion der peripheren Laufzeiten anhand der F-Wellen-Latenzen berechnet werden kann.<sup>4</sup> Dies kann an der oberen und unteren Extremit&auml;t f&uuml;r unterschiedliche Myotome erfolgen und dient ebenfalls der H&ouml;henlokalisation. Als besonders sensitiv f&uuml;r die Erfassung auch sehr geringer spinaler Sch&auml;digungen im Bereich des anterioren zervikalen R&uuml;ckenmarks haben sich CHEP erwiesen, deren spinale Weiterleitung nach Kreuzung in der anterioren Kommissur ein bis zwei Segmente oberhalb der Eintrittszone im spinothalamischen Trakt erfolgt (Abb. 2).<sup>6</sup></p> <h2>Prognose bei Nervenverletzungen</h2> <p><strong>Periphere Nervenverletzungen</strong><br /> Verletzungen mit peripherem Nerventrauma betreffen vorwiegend j&uuml;ngere Patienten. Entscheidend f&uuml;r die Prognose sind Schweregrad und Lokalisation.<sup>3</sup> Eine Erholung ist nur bei inkompletter Nervenoder Wurzelsch&auml;digung zu erwarten. Wichtigstes Kriterium sind klinische und elektromyografische Kontinuit&auml;tsnachweise. Die Prognose ist ferner abh&auml;ngig von der Lokalisation und folgt generell der Regel, dass die Erholungschancen bei distaler gelegenem Schaden besser sind als bei proximalen. Wurzelavulsionen haben trotz Fortschritten in den chirurgischen M&ouml;glichkeiten der Nervenrekonstruktion nach wie vor eine sehr schlechte Prognose.<sup>14</sup> F&uuml;r die Differenzierung von Schwere und Lokalisation stehen heute neben den etablierten elektrophysiologischen in zunehmendem Masse bildgebende Methoden zur Verf&uuml;gung.<sup>3</sup> Kernspintomografie mit speziellen Algorithmen zur Diagnostik mittels Traktografie sowie Ultraschalldiagnostik von Nerv und Muskel sind vielversprechende und sich rasch entwickelnde Methoden, die in den n&auml;chsten Jahren entscheidend zur Diagnostik, Triage und Verlaufsbeurteilung beitragen werden.</p> <p><strong>Zervikale Myelopathie</strong><br /> Die Prognose der Myelopathie bei zervikaler Spinalkanalstenose ist bislang nicht gut verstanden. Insbesondere die Progression einer symptomatischen zervikalen Myelopathie ist hinsichtlich pr&auml;diktiver Zeichen und Charakteristika ungekl&auml;rt.<sup>10</sup> Eine operative Dekompression sollte mit dem Ziel der Begrenzung der Progression, nicht unter der Vorstellung der Verbesserung bereits bestehender neurologischer Ausf&auml;lle erfolgen. Gleichwohl kann in vielen F&auml;llen eine gewisse Verbesserung neurologischer Defizite beobachtet werden.<sup>15</sup></p> <p><strong>Traumatische R&uuml;ckenmarksch&auml;digung</strong><br /> Die Prognose der traumatischen R&uuml;ckenmarksch&auml;digung ist gut beschrieben. Sie ist durch die Verletzungsh&ouml;he und -schwere bestimmt.<sup>16</sup> Die zugrunde liegenden Mechanismen k&ouml;nnen unterschiedlichen Mechanismen der Kompensation, neuronalen Plastizit&auml;t und Regeneration zugeordnet werden. Neurophysiologische Methoden sind bei dieser Zuordnung f&uuml;r die Prognose und zum Verst&auml;ndnis des differenzierten Sch&auml;digungsbildes hilfreich.<sup>17</sup> Sie k&ouml;nnen insbesondere auch bei wissenschaftlichen Fragestellungen und zur syndromalen Charakterisierung der spinalen L&auml;sion dienlich sein. Eine entsprechende Untersuchung aller wichtigen spinalen Tractus ist heute mittels entsprechender Technik m&ouml;glich und erlaubt eine systematische Funktionstestung und Quantifizierung des klinischen Defizits.<sup>8</sup> Insbesondere f&uuml;r die Prognose der Gangund der Handfunktion k&ouml;nnen &ndash; basierend auf den Ergebnissen der Untersuchung mit neurophysiologischen Methoden der sensorischen und motorischen evozierten Potenziale &ndash; objektive und differenzierte Vorhersagen getroffen werden.<sup>18&ndash;21</sup></p> <p>&nbsp;<img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Leading Opinions_Ortho_1704_Weblinks_lo_ortho_1704__s20_abb1.jpg" alt="" width="1417" height="816" /></p> <p>&nbsp;<img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Leading Opinions_Ortho_1704_Weblinks_lo_ortho_1704__s21_abb2.jpg" alt="" width="1417" height="1569" /></p></p> <p class="article-footer"> <a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a> <div class="collapse" id="collapseLiteratur"> <p><strong>1</strong> Chen R et al.: Clin Neurophysiol 2008; 119(3): 504-32 <strong>2</strong> Cole JS, Patchell RA: Lancet Neurol 2008; 7(5): 459-66 <strong>3</strong> Simon NG et al.: J Neurol Neurosurg Psychiatry 2016; 87(2): 198-208 <strong>4</strong> Di Lazzaro V et al.: Neurology 2004; 63(12): 2266-71 <strong>5</strong> Kramer JL et al.: Clin Neurophysiol 2012; 123(3): 582-9 <strong>6</strong> Ulrich A et al.: Neurology 2013; 80(15): 1393-9 <strong>7</strong> Wydenkeller S et al.: Clin Neurophysiol 2008; 119(4): 812-21 <strong>8</strong> Dietz V, Curt A: Lancet Neurol 2006; 5(8): 688-94 <strong>9</strong> Harrop JS et al.: Spine 2010; 35(6): 620-4 <strong>10</strong> Fehlings MG et al.: Spine 2013; 38(22 Suppl 1): S19-20 <strong>11</strong> Wilson JR et al.: Spine 2013; 38(22 Suppl 1): S37-54 <strong>12</strong> Kramer JK et al.: Neurorehabil Neural Repair 2010; 24(4): 309-17 <strong>13</strong> Kramer JL et al.: J Neurotrauma 2008; 25(8): 1019-26 <strong>14</strong> Carlstedt T et al.: Lancet 1995; 346(8986): 1323-5 <strong>15</strong> Fehlings MG et al.: J Bone Joint Surg Am 2013; 95(18): 1651-8 <strong>16</strong> Curt A et al.: J Neurotrauma 2008; 25(6): 677-85 <strong>17</strong> Curt A, Dietz V: Spinal Cord 1999; 37(3): 157-65 <strong>18</strong> Kuhn F et al.: J Neurotrauma 2012; 29(10): 1829-37 <strong>19</strong> Petersen JA et al.: Neurorehabil Neural Repair 2012; 26(8): 939-48 <strong>20</strong> Petersen JA et al.: Neurorehabil Neural Repair 2017; 31(5): 432-41 <strong>21</strong> Spiess M et al.: Clin Neurophysiol 2008; 119(5): 1051-61</p> </div> </p>
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