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Anorexia nervosa

Mit Tiefenhirnstimulation zunehmen

<p class="article-intro">In einer Studie aus Toronto nahmen Frauen mit Anorexie mithilfe von tiefer Hirnstimulation zu und hatten weniger Angstgefühle. Noch ist es aber zu früh, dies als Standardtherapie zu empfehlen, denn die Studie hat einige Schwächen. Wir sprachen mit zwei Anorexiespezialisten darüber, ob die invasive Therapie eine Zukunft hat.</p> <hr /> <p class="article-content"><p>Anorexia nervosa ist eine der am schwierigsten zu behandelnden Krankheiten. Sofern die Betroffenen &uuml;berhaupt einsehen, dass sie eine Krankheit haben, bekommen viele trotz Psychotherapie einen R&uuml;ckfall, und die Krankheit ist mit einer hohen Mortalit&auml;t verbunden. &laquo;Zwar kann man eine leichte Anorexie mit viel Einsatz und Motivation erfolgreich behandeln und die Betroffenen essen wieder halbwegs normal&raquo;, sagt Prof. Dr. med. Gregor Hasler, Chefarzt an der Uniklinik f&uuml;r Psychiatrie und Psychotherapie der Universit&auml;ren Psychiatrischen Dienste (UPD) Bern, &laquo;aber einige schaffen es trotzdem nicht. Das ist total frustrierend f&uuml;r sie selbst, aber auch f&uuml;r uns &Auml;rzte und die Angeh&ouml;rigen.&raquo; Magers&uuml;chtige leiden zudem oft zus&auml;tzlich an &Auml;ngsten oder Depressionen, was die Behandlung nochmals erschwert.<br /> &Auml;rzte von der Universit&auml;t Toronto probierten jetzt tiefe Hirnstimulation (DBS).<sup>1</sup> Stimuliert wurde dabei der subgenuale cingul&auml;re Gyrus, der vorderste Abschnitt des Gyrus cinguli und sein einziger Abschnitt, der sich unterhalb des Corpus callosum befindet (&laquo;subcallosal cingulate&raquo;). Er geh&ouml;rt zum limbischen System, das Emotionen verarbeitet.<br /> Zwischen September 2011 und Januar 2014 wurden bei 16 Frauen in einer stereotaktischen Operation beidseitig Sonden in den &laquo;subcallosal cingulate&raquo; vorgeschoben und mit einem Steuerger&auml;t verbunden, das Impulse von zun&auml;chst 2,5V, sp&auml;ter bis zu 6V in einer Frequenz von 130 aussendet. Die Teilnehmerinnen im Alter von 21 bis 57 Jahren hatten einen Body-Mass-Index (BMI) von im Schnitt 13,83kg/m<sup>2</sup>, also extremes Untergewicht (Tab. 1). Sie litten zwischen 9 und 29 Jahren an Magersucht und hatten schon mehrfache erfolglose Behandlungen und Spitalaufenthalte hinter sich. Zun&auml;chst besserten sich Depressionen und Angstgef&uuml;hle, dann nahmen die Frauen zu. Nach einem Jahr betrug der BMI im Schnitt 17,34kg/m<sup>2</sup> &ndash; ab 18,5 spricht man von Normalgewicht. Der BMI hatte &uuml;ber den Studienzeitraum zugenommen, gleichzeitig besserten sich die Beschwerden der Patientinnen (Abb. 1). Studienautor Prof. Andres Lozano ist zufrieden: &laquo;Anorexie bleibt die psychiatrische Krankheit mit der h&ouml;chsten Mortalit&auml;tsrate&raquo;, sagt er. &laquo;Es m&uuml;ssen unbedingt sichere, effektive, evidenzbasierte Behandlungen entwickelt werden, die auf unserem wachsenden Verst&auml;ndnis der Kreisl&auml;ufe im Hirn beruhen.&raquo;</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Leading Opinions_Neuro_1704_Weblinks_s28_1.jpg" alt="" width="1417" height="1604" /><br /> Die Implantation der Sonden, die bei der Behandlung anderer Erkrankungen wie Parkinson oder Depressionen angewendet wird, verlief weitgehend komplikationsfrei. Bei f&uuml;nf Patientinnen hielten die postoperativen Schmerzen l&auml;nger an als die &uuml;blichen drei bis vier Tage nach einer Operation. Bei einer Patientin kam es zu einer lokalen Infektion. Die Elektroden mussten entfernt werden, konnten sp&auml;ter aber wieder implantiert werden. Zwei weitere Teilnehmerinnen baten darum, dass die Elektroden entfernt oder das Ger&auml;t abgeschaltet wird. Schwere Komplikationen wie intrakranielle Blutungen oder sogar Todesf&auml;lle sind nicht aufgetreten.<br /> &laquo;Die Nebenwirkungen sind nicht ohne&raquo;, gibt Hasler zu bedenken. &laquo;Infektion, tagelange Schmerzen, zwei Frauen wollten die Sonden vorzeitig entfernen lassen und zwei erlitten Krampfanf&auml;lle &ndash; solche Risiken sind nur dann gerechtfertigt, wenn die Krankheit mit keinen anderen Mitteln behandelbar ist.&raquo; Die Werte der &laquo;Hamilton Depression Rating&raquo;-Skala sanken im Median von 19,40 auf 8,79 Punkte nach 12 Monaten, beim &laquo;Beck Anxiety Inventory&raquo;-Wert kam es zu einem R&uuml;ckgang von 38,00 auf 27,14 Punkte. Der &laquo;Dysfunction in Emotional Regulation Scale&raquo;-Wert ging von 131,80 auf 104,36 Punkte zur&uuml;ck, auch dies bedeutete eine Verbesserung. Auf Positronenemissionstomografie-Aufnahmen des Hirns beobachteten die Forscher einen erh&ouml;hten Glukoseverbrauch im &Uuml;bergang vom temporalen und parietalen Lappen und dem Gyrus fusiformis, die eher die soziale Wahrnehmung und das Verhalten steuern als die Nahrungsaufnahme (Abb. 2). &laquo;Dies spricht daf&uuml;r, dass Anorexie eine komplizierte Krankheit ist, bei der nicht nur das Essen eine Rolle spielt&raquo;, so Hasler.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Leading Opinions_Neuro_1704_Weblinks_s28_2.jpg" alt="" width="1417" height="1372" /><br /> Man d&uuml;rfe sich keine falschen Hoffnungen machen, warnt Prof. Dr. med. Ulrich Voderholzer, &Auml;rztlicher Direktor der Sch&ouml;n Klinik Roseneck in Prien am Chiemsee, einer Fachklinik f&uuml;r Essst&ouml;rungen. &laquo;Wir wissen nicht, ob die Gewichtszunahme wirklich auf die Tiefenhirnstimulation zur&uuml;ckzuf&uuml;hren ist&raquo;, sagt er. So haben f&uuml;nf Patientinnen trotz DBS nicht zugenommen. &laquo;Durch so eine international beachtete Studie bekamen die Probandinnen eine enorme Aufmerksamkeit&raquo;, sagt Voderholzer. &laquo;Viele Studienteilnehmer profitieren schon allein dadurch, dass man sich in ganz besonderer Weise und sehr intensiv um sie k&uuml;mmert.&raquo; Ausserdem sei nicht klar, ob die Therapie bei den Patientinnen wirklich ausgereizt worden sei, zum Beispiel, ob sie in Spezial&shy;kliniken f&uuml;r Essst&ouml;rungen behandelt wurden. &laquo;Ob DBS wirklich wirkt, kann man letztlich nur beweisen, indem man eine Gruppe von Patientinnen mit einer Placebo-DBS behandelt.&raquo;<br /> Doch bew&auml;hrt sich die Technik, k&ouml;nne Tiefenhirnstimulation bei Anorexie in Zukunft eine gute Option sein, so Hasler: &laquo;Viele werfen schwer Magers&uuml;chtigen vor, sie w&uuml;rden sich zu wenig bem&uuml;hen, das ist stigmatisierend. DBS k&ouml;nnte dazu beitragen, schwer Magers&uuml;chtige von diesem Stigma zu befreien.&raquo;</p></p> <p class="article-footer"> <a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a> <div class="collapse" id="collapseLiteratur"> <p><strong>1</strong> Lipsman N et al.: Lancet Psychiatry 2017; online 23. 2. 2017 <strong>2</strong> American Psychiatric Association: Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders. Fifth Edition DSM-5. Washington DC: American Psychiatric Publishing, 2013. 338-45</p> </div> </p>
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