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Mythen müssen aus den Köpfen
Jatros
Autor:
Assoc. Prof. Priv.-Doz. Dr. Johannes Holinka
Universitätsklinik für Orthopädie, Medizinische Universität Wien<br> E-Mail: johannes.holinka@meduniwien.ac.at
30
Min. Lesezeit
11.05.2017
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<p class="article-intro">Bei Patienten mit rheumatoider Arthritis steht das Thema Bewegung und Sport immer kontroversiell zu den Schmerzen und Einschränkungen des Bewegungsapparates. Wie viel und wie oft soll sich ein Patient mit rheumatischer Gelenkserkrankung bewegen, um nicht eine weitere Destruktion oder einen Schub der Gelenksentzündung zu provozieren? Rheumapatienten werden oft angehalten, ihre Gelenke nicht übermäßig zu beanspruchen. Regelmäßige Bewegung ist jedoch die Grundlage und eines der wichtigsten Behandlungsprinzipien bei rheumatischen Gelenkserkrankungen.</p>
<hr />
<p class="article-content"><p>Bewegung bedeutet Lebensqualität. Die Frage ist, ob diese Weisheit auch auf Rheumapatienten zutrifft. Erkrankungen aus dem rheumatischen Formenkreis betreffen meist den Stütz- und Bewegungsapparat, somit wird Patienten oft geraten, ihre Gelenke zu schonen. Junge Patienten, die schon seit frühester Kindheit im Rahmen einer juvenilen rheumatoiden Arthritis an rezidivierenden Gelenkschmerzen und -schwellungen leiden, werden sehr früh darauf konditioniert, ihre Gelenke nicht zu sehr zu beanspruchen, und müssen in vielen Fällen auf sportliche Aktivitäten verzichten. Die Entbehrung sportlicher Unternehmungen gibt diesen Jugendlichen auch einen anderen Stellenwert im sozialen Umfeld und ist die Grundlage für Muskelatrophien, Muskelverkürzungen und schlussendlich Gelenkskontrakturen. Aber auch bei Patienten, bei denen sich die Erkrankung erst im Erwachsenenalter manifestiert, kommt es oft sehr schnell zum Rückzug von sportlichen Aktivitäten und gelenksbeanspruchenden Freizeitgestaltungen, wie z.B. Wandern.</p> <p>Durch die positive Entwicklung der Medikation mit DMARDs und Biologika hat sich das Beschwerdebild der meisten Rheumapatienten sehr gewandelt. Rezidivierende Krankheitsschübe mit Gelenksergüssen und Schmerzen des gesamten Bewegungsapparates können damit unterbunden werden. Bei manchen Patienten führen sie sogar zur Remission der Erkrankung. Jedoch auch Patienten, die auf diese medikamentösen Therapien gut ansprechen, trauen sich oft nicht, zu ihren sportlichen Aktivitäten zurückzukehren oder mit neuen zu beginnen.<br />Nach wie vor kursieren Gerüchte und Mythen, wie: „Rheumapatienten müssen sich schonen und dürfen sich möglichst nicht bewegen!“ Dies ist jedoch ein Irrglaube. Es kann zwar zu Bewegungseinschränkungen kommen, sodass der Sport nicht mehr so wie gewohnt ausgeübt werden kann. Hier sollte jedoch durch Änderungen der Bewegungsabläufe versucht werden, die Möglichkeiten zur Sportausübung weiter zu erhalten. Selbst wenn rein sportliches Training nicht mehr möglich sein sollte, sollte Bewegung weiter in Form von Krankengymnastik oder weiterer physiotherapeutischer Therapie erfolgen, um dem Teufelskreis von Schmerzen und Muskelverspannungen zu entkommen. Unter anderem werden durch regelmäßige Sportausübung und Bewegung Begleiterkrankungen wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen (z.B. Herzkranzgefäßverengung, Bluthochdruck, Venenleiden), Stoffwechselerkrankungen (z.B. Fettstoffwechselstörungen, Übergewicht, Diabetes), Lungenerkrankungen (z.B. Asthma, chronische Bronchitis) und neurologisch-psychiatrische Erkrankungen (z.B. Depression, Psychose, Demenz) günstig beeinflusst. Aus diesen Gründen ist es wichtig, Rheumapatienten die Angst vor der Bewegung zu nehmen und Möglichkeiten für körperliche Aktivität zu bieten.<br />Studien haben gezeigt, dass die Muskelkraft bei Rheumapatienten – aufgrund der Immobilität bei inflammierten Gelenken und körperlicher Inaktivität – um 30–75 % reduziert ist, ebenso liegen die Ergebnisse bei Fitnesstests 20–30 % unter den Normalwerten. Nachweislich führt die reduzierte Aktivität in 50–60 % zu einer höheren Mortalität aufgrund von kardiovaskulären Erkrankungen.</p> <h2>Wo sollen die Therapie und der Weg hin zur Bewegung ansetzen?</h2> <p>Zunächst müssen entzündliche und nicht entzündliche Schmerzen sowie Muskelverspannungen durch physikalische Therapie (Kälte, Wärme, Massage), systemisch mit Medikamenten (NSAR, Opioide, Kortison und Basistherapeutika: DMARDs, Biologika) und/oder lokal mit Infiltrationen (Lokalanästhetika und Kortison) behandelt werden. Bei einem sehr eingeschränkten Bewegungsumfang einzelner Gelenke kann durch eine vorgesetzte Krankengymnastik versucht werden, eine verbesserte Mobilität zu erzielen.<br />Nach gründlicher Erhebung des Gelenksstatus sollten Patient und Therapeut zusammen die optimalen Bewegungsmuster eruieren, um eine adaptierte Sportart, ein adaptiertes Training oder adaptierte Bewegungsabläufe festzulegen. Dieses Programm sollte in den ersten Einheiten entsprechend begleitet werden, um sicherzustellen, dass das erarbeitete Projekt entsprechend umgesetzt werden kann und auch den erhofften Fortschritt bringt. Wichtig für den Trainingserfolg ist die Festlegung der Ziele und in welche Richtung – sei es Ausdauertraining und/oder Krafttraining – die Bewegung führen soll.</p> <h2>Welche Sportarten und Bewegungsabläufe sind bei rheumatoider Arthritis anzuraten?</h2> <p>Im Prinzip gibt es keine Sportart, die nicht durchgeführt werden sollte, sofern sie auf den Krankheits- und Funktionsstatus der Gelenke in der Ausübung abgestimmt ist. In erster Linie werden aber Low-Impact-Sportarten empfohlen, mit einer Trainingsfrequenz im aeroben Bereich bis zu 60 Minuten täglich und bis zu 5-mal wöchentlich. Im Ausdauerbereich sind Nordic Walken, Radfahren, Schwimmen und Laufen günstige Möglichkeiten. Zur Kräftigung der Muskulatur sind, abgesehen von gezieltem Krafttraining, auch Gymnastik, Yoga, Tai-Chi oder Pilates-Übungen günstige Alternativen. Letztere haben auch den Vorteil, dass die Bewegungsabläufe zusätzlich zu einer Dehnung der Muskelgruppen führen. Da das Krafttraining nicht nur zum Aufbau der Muskulatur und Abbau von Verspannungen dient, sondern auch zur Förderung des Knochenstoffwechsels beiträgt, wäre es wichtig, dass auch Rheumapatienten mit fortgeschrittenen Funktionseinschränkungen die Möglichkeit zum Muskeltraining geboten wird. In diesen Fällen würden sich isometrisches Krafttraining und Aquagymnastik anbieten.<br />Nicht zu empfehlen sind High-Impact-Sportarten mit Stop-and-go-Bewegungsabläufen wie Squash, Tennis oder Fußball sowie auch Kontaktsportarten, wie diverse Kampfsportarten, Rugby oder Football.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Jatros_Ortho_1703_Weblinks_s59.jpg" alt="" width="1454" height="1303" /></p> <h2>Gibt es Kontraindikationen für Sport und Bewegung?</h2> <p>Starke Gelenksdeformationen und -destruktionen stellen zwar eine gewisse Kontraindikation für Sport dar, dennoch sollte eine gezielte Krankengymnastik die Möglichkeit zur Bewegung offenhalten. Ähnlich verhält es sich bei vertikalen oder horizontalen C1/2-HWS-Instabilitäten. Im akuten Krankheitsschub hingegen sollten schmerzlindernde physikalische und medikamentöse Maßnahmen im Vordergrund stehen, von einer Bewegungstherapie sollte Abstand genommen werden. Als weitere Kontraindikationen sind sämtliche Arten von Entzündungszuständen, wie Perikarditis oder Pleuritis, anzusehen.</p> <h2>Warum ist es auch für Rheumapatienten essenziell, Bewegung zu forcieren?</h2> <p>Für den Bewegungsapparat bedeuten Bewegung und Sport nicht nur eine Verbesserung der Fitness und damit verbunden eine Steigerung der körperlichen Aktivität. Der Gewinn an Muskelkraft entlastet auch die Gelenke und Bandansätze speziell im Bereich des Rumpfes und der Wirbelsäule. Dadurch kann nicht nur eine Verbesserung des Körpergefühls, sondern auch eine Reduktion der Schmerzen erreicht werden. Studien haben gezeigt, dass körperliches Training zu keiner Verschlechterung des radiologischen Gelenksstatus führt und speziell Krafttraining dem Knochenabbau und der Demineralisierung entgegenwirkt. <br />Bei Rheumapatienten sind Bewegung und Sport nicht nur essenziell für den Bewegungsapparat, sondern auch für das allgemeine Befinden und den gesamten Organismus. Regelmäßige Bewegung führt zur Endorphinausschüttung und damit zu Stressabbau und Reduktion von Depressionen, wodurch wiederum die Schmerzschwelle erhöht wird. Ebenso verbessert sich der Fettstoffwechsel und damit verlangsamen sich die atherosklerotischen Prozesse in Gefäßen. Richtig angelegtes Training kann auch eine Senkung des Blutdrucks bewirken und damit im Gesamten eine Reduktion der kardiovaskulären Mortalität. Speziell bei gezielt immunsupprimierten Patienten kann durch die Bewegung das restliche Immunsystem gesteigert und die Krankheitsaktivität positiv beeinflusst werden.<br />Abgesehen von wenigen Kontraindikationen haben Bewegung und Sport nach Studienlage durchwegs einen positiven Effekt auf den Krankheitsverlauf von Rheumapatienten. Mythen, die das Gegenteil behaupten, müssen aus den Köpfen der Patienten, Ärzte und Therapeuten entfernt werden und durch Aufklärung und Information über Möglichkeiten und Benefits sowie durch Förderung der Motivation der Patienten, etwas für sich und ihren Körper zu tun, ersetzt werden.<br />Der Inhalt dieses Artikels war Thema eines Vortrags bei der Sportärztewoche, 4.–9. Dezember 2016, Kaprun.</p></p>
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<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
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<p>beim Verfasser</p>
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