Wachstumslenkung der Wirbelsäule

<p class="article-intro">Deformitäten der Wirbelsäule des Kindes, welche lange vor Wachstumsabschluss ein erhebliches Ausmaß erreichen, werden durch chirurgische Wachstumslenkung der Wirbelsäule ohne Fusion behandelt. Die Behandlung ist aufgrund der Notwendigkeit mehrerer Eingriffe häufig belastend und komplikationsreich.</p> <p class="article-content"><div id="keypoints"> <p>Keypoints</p> <ul> <li>Das Wachstum auf der &bdquo;gesunden Seite&ldquo; wird durch konvexseitige Fusion der Wirbelgelenke und konvexseitige Epiphyseodese der Bandscheiben und Apophysen reduziert.</li> <li>Wachstumslenkende Implantate wirken durch Schienung oder Distraktion.</li> <li>Behandlungsziele sind Verbesserung oder Halten der Ausgangskr&uuml;mmung der Wirbels&auml;ule und eine ausreichende Lungenfunktion.</li> <li>Materialbr&uuml;che, starke Kyphosen, zunehmende Wirbels&auml;ulenrotation durch das &bdquo;Crankshaft-Ph&auml;nomen&ldquo; und belastungsbedingte Verhaltens&auml;nderungen stellen typische Komplikationen dar.</li> </ul> </div> <h2>Indikation</h2> <p>Die Indikation zur Wachstumslenkung ergibt sich unter anderem bei kongenitaler Skoliose und/oder Kyphose mit/ohne Rippensynostosen, infantiler und juveniler idiopathischer Skoliose, neuropathischer Deformit&auml;t mit hoher Progression (Muskelatrophie/-dystrophie) und Myelomeninfgozele. <br />Vor Abschluss des 3. Lebensjahres muss die Indikation mit gro&szlig;er Vorsicht gestellt werden. Da sich Untersuchungen h&auml;ufen, die als Folge von Operationen mit langer Narkosedauer bleibende Entwicklungsst&ouml;rungen und schlechtere Lernleistungen im Vergleich zu Kontrollgruppen beschreiben, hat die FDA 2016 eine Warnung ausgesprochen: Lang dauernde Operationen sollten nur bei zwingender Indikation vor dem 3. Lebensjahr durchgef&uuml;hrt werden. Diese wird vor allem dann gegeben sein, wenn eine bleibende re&shy;striktive Ventilationsst&ouml;rung zu erwarten ist oder eine kongenitale Deformit&auml;t ohne Intervention vor Abschluss des 3. Lebensjahres ein nur mehr mit hohem neurologischem Risiko behandelbares Ausma&szlig; erreicht.<br />Das Lungenparenchym reift bis zum Ende des 5. Lebensjahres aus. Starke restriktive Ventilationsst&ouml;rungen vor dem 5. Lebensjahr, bedingt durch eine Skoliose &uuml;ber Cobb 90&deg; oder durch Thoraxfehlbildungen, lassen die Entwicklung eines f&uuml;r die Anstrengungen des Alltags ausreichenden Lungenparenchymvolumens nicht zu. Die Folgen sind Pneumonien und Cor pulmonale im weiteren Leben. Besonders kongenitale Deformit&auml;ten k&ouml;nnen rasch ein sehr hohes Ausma&szlig; erreichen, z.B. bei Vorliegen eines langen &bdquo;unsegmented bar&ldquo;, einer kn&ouml;chernen Verbindung mehrerer Wirbel auf einer Seite, evtl. noch vergesellschaftet mit Rippensynostosen. Mehrere Halbwirbel auf einer Seite zeigen ebenfalls massive Progredienz.<br />Je j&uuml;nger ein Organismus, desto verformbarer ist der Thorax, und desto schwieriger ist es, &uuml;ber ein Korsett korrigierende Kr&auml;fte via Rippen auf die Wirbels&auml;ule wirken zu lassen. Grunds&auml;tzlich gelingt dies bei kleinen Kindern eher durch Gipse oder Rumpforthesen, welche den Rumpf zirkul&auml;r fassen. Mit seriellen Gipsen l&auml;sst sich bei neuropathischen und kongenitalen Skoliosen der Operationszeitpunkt bis zu 3 Jahre verz&ouml;gern. Auch bei kleinen Kindern gibt es andere chirurgische Techniken als Wachstumslenkung, und diese Techniken sind je nach Fall oft vorzuziehen, z.B. die Halbwirbelresektion bei Halbwirbeln, eine Keilresektion der Wirbels&auml;ule bei massiven kongenitalen Deformit&auml;ten und die Kyphektomie bei massivem kongenitalem Gibbus im Rahmen einer Myelomeningozele.<br />Besonders die oben genannten Faktoren, aber auch weitere bestimmen bei dem heterogenen und seltenen Patientenkollektiv die Indikationsstellung und den richtigen Zeitpunkt der ersten chirurgischen Intervention.</p> <h2>Konvexseitige Epiphyseodese und einseitige dorsale Fusion</h2> <p>Wird die Wirbels&auml;ule dorsal nur auf einer Seite im Bereich der Wirbelgelenke fusioniert, auf der anderen nicht, so w&auml;chst die Wirbels&auml;ule auf der nicht fusionierten Seite st&auml;rker. Dieser Effekt l&auml;sst sich gut zur Wachstumslenkung n&uuml;tzen, indem die Konvexseite einer Kr&uuml;mmung dorsal fusioniert wird, meist ohne Implantate. Allerdings wachsen dann auch Bandscheiben und Wirbelk&ouml;rper ungehindert weiter. Dies f&uuml;hrt dazu, dass sich die Wirbelk&ouml;rper im Laufe des Wachstums um die fusionierte Konvexseite zu drehen beginnen. Dies wird als Kurbelwellenph&auml;nomen oder Crankshaft-Ph&auml;nomen beschrieben. Diese starke Rotation ist mit einer sp&auml;teren Operation nicht mehr gut korrigierbar. Daher muss eine konvexseitige dorsale Fusion mit einer konvexseitigen Epiphyseodese von ventral verbunden werden. Dabei wird ganz peripher ein kleiner Bandscheibenabschnitt von ca. 1cm entfernt und es werden dort Knochensp&auml;ne eingebracht. Dazu ist eine Thorakotomie oder auch ein Zweih&ouml;hleneingriff erforderlich. Liegen die Rippen der Wirbels&auml;ule nicht sehr eng an, kann dies auch &uuml;ber eine Thorakoskopie erfolgen. Die Kombination beider Eingriffe ist die Basis der Wachstumslenkung. Die dabei zu fusionierende Strecke sollte zumindest gro&szlig;e Teile einer rigiden Hauptkr&uuml;mmung betreffen. Von ventral ist die Strecke oft durch den Zugang begrenzt. Eine &Uuml;berkorrektur kommt praktisch nicht vor.<br />Mit einer wahrscheinlich auf Moe zur&uuml;ckzuf&uuml;hrenden Regel kann der Verlust an K&ouml;rpergr&ouml;&szlig;e durch eine Fusion abgesch&auml;tzt werden:</p> <p>∆(cm)=N(a)&times;N(d)&times;0,07(cm)<br />&Delta;(cm) = Differenz zwischen K&ouml;rperwachstum ohne und mit Fusion<br />N(a) = Anzahl der verbleibenden Jahre mit K&ouml;rperwachstum<br />N(d) = Anzahl der Bandscheiben bzw. Bewegungssegmente, die fusioniert werden</p> <p>Wird ein M&auml;dchen mit 11 Jahren fusioniert, hat es ca. 4 Jahre K&ouml;rperwachstum vor sich. Werden 10 Bewegungssegmente fusioniert, so ergeben sich 2,8cm Wachstumsverlust. Die Formel ist wahrscheinlich empirisch schlecht belegt. Ein Problem ist die gleichzeitige Beeinflussung des Kr&uuml;mmungsausma&szlig;es, was nur schlechte Sch&auml;tzungen zul&auml;sst. Grunds&auml;tzlich gilt: besser kurz und gerade als kurz und krumm.</p> <h2>Korrektur durch Implantat</h2> <h2>Schrauben-Stab-Konstrukt</h2> <p>Das erste Implantat war ein Harrington-Distraktionsstab, subkutan unter eine Hautbr&uuml;cke gelegt, befestigt mit je einem Haken kranial und kaudal. Dieser Stab wurde am oberen Haken jedes Jahr weiter aufgespreizt. Reichte die L&auml;nge nicht mehr, wurde der Stab ausgetauscht. Heute sind mehrere konkurrierende Verfahren &uuml;blich:</p> <ul> <li>Einfaches Schrauben-Stab-Konstrukt: Bei manchen Implantaten gibt es dazu spezielle Bausteine zum Verl&auml;ngern. Nachteilig sind die j&auml;hrlich notwendigen Verl&auml;ngerungen (Abb. 1).</li> <li>Shilla: Fixation des Apex mit 2 Pedikelschrauben pro Wirbel, welche die 2 St&auml;be fixieren, sowie Fixation der Endwirbel (und angrenzenden Wirbel) mit Schrauben mit Gleitloch. Der Vorteil ist eine gute initiale Korrektur mit Derotation. Nachteile sind die h&auml;ufig eintretende Spontanfusion sowie die Metallose, welche auch region&auml;re Lymphknoten betrifft. Operationen sind seltener notwendig, nur dann, wenn die Stabl&auml;nge nicht mehr ausreicht.</li> <li>Distraktion mit Magnetmotor: Der Motor wird im Rahmen eines Schrauben-Stab-Konstrukts verwendet. Durch Verl&auml;ngerung alle 3 Monate mit Magnet von au&szlig;en und sonografische Kontrolle der Verl&auml;ngerung sind weitere Eingriffe nur notwendig, wenn der Motor das Ende seiner Distraktionsl&auml;nge erreicht hat (Abb. 2).</li> </ul> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Jatros_Ortho_1703_Weblinks_s15.jpg" alt="" width="1458" height="2008" /><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Jatros_Ortho_1703_Weblinks_s16_1.jpg" alt="" width="1456" height="1218" /></p> <p>&nbsp;</p> <p>Bei den drei genannten Verfahren wird eine Schrauben-Stab-Konstruktion verwendet, bei Shilla mit einem abweichenden Instrumentationsmuster. Shilla ist ein Verfahren mit innerer Schienung, erm&ouml;glicht dadurch, dass die St&auml;be in den Schraubenl&ouml;chern gleiten k&ouml;nnen. &Auml;hnliches wurde fr&uuml;her mit dem &bdquo;Luque-trombone&ldquo; erreicht, bei welchem St&auml;be in sublamin&auml;ren Drahtcerclagen befestigt wurden und frei gleiten konnten. Damit waren sehr hohe Spontanfusionsraten zu beobachten, daher wird versucht, mit einer transkutanen Technik bei Shilla die spontane Fusion zu reduzieren.<br />Die sehr teuren Magnetdistraktoren haben eine besondere Indikation bei Muskelatrophien und -dystrophien, weil hier im Vergleich mit anderen Indikationen eine erh&ouml;hte Komplikationsrate durch pulmonale Komplikationen bei Operationen besteht und die Operationsfrequenz so niedrig wie m&ouml;glich gehalten sollte.<br />Eine Korsettfixation w&auml;hrend der Behandlung wird bei Shilla f&uuml;r 6 Wochen empfohlen. Sonst ist sie nur in begr&uuml;ndeten und ausgew&auml;hlten F&auml;llen erforderlich, z.B. bei schlechter Fixationsqualit&auml;t, nach mehreren Schraubenausrissen, selten bei exzessiven Bewegungen durch neurologische Erkrankungen.</p> <h2>VEPTR (&bdquo;vertical expandable prosthetic titanium rib&ldquo;)</h2> <p>VEPTR hat einen anderen Ansatz und wird daher getrennt abgehandelt. Es wurde zur Behandlung des kongenitalen Thorax-Insuffizienz-Syndroms entwickelt. Es werden Rippenklammern und ein verl&auml;ngerbares Schienensystem verwendet. Die h&auml;ufige Lage zwischen Scapula und Thorax erfordert ein m&ouml;glichst flaches Konstrukt. H&auml;ufig werden 2 Schienen-Klammern-Systeme verwendet (Abb. 3).<br />Beim kongenitalen Thorax-Insuffizienz-Syndrom finden sich nicht selten fl&auml;chige Rippensynostosen, bei denen mehrere Rippen zu einer kn&ouml;chernen Platte verwachsen sind. Solche Platten werden ein- oder zweimal in Verlaufsrichtung der Rippen osteotomiert. Dann kann das Thoraxvolumen durch Aufspreizen deutlich erweitert werden. Eine Korsettfixation w&auml;hrend der Behandlung ist nicht erforderlich.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Jatros_Ortho_1703_Weblinks_s16_2.jpg" alt="" width="1456" height="1559" /></p> <h2>Beckenfixation bei Myelomeningozele</h2> <p>Eine Myelomeningozele betrifft naturgem&auml;&szlig; die Lendenwirbels&auml;ule. Meist findet sich der Apex der Kr&uuml;mmung am kranialen Ende des offenen Spinalkanals. Ziel ist vor allem auch eine Korrektur des Beckenschiefstands bei fehlender Hautsensibilit&auml;t im Ges&auml;&szlig;. Hier ist dann eine Beckenfixation notwendig, in Kombination mit einem Schrauben-Stab-Konstrukt. Das Ilium ist h&auml;ufig sehr d&uuml;nn, bedingt durch fehlende Muskelkraft der ans Ilium ansetzenden Muskeln. In diesen F&auml;llen hat es sich bew&auml;hrt, den Distraktionsstab so zu biegen, dass er an der Ala des Sacrums einhakt. Zur Sicherung gegen Dislokation wird eine Schraube in L4 eingebracht (Dunn-McCarthy-Fixation).</p> <h2>Probleme mit Implantaten</h2> <p>Grunds&auml;tzlich gilt, dass bei allen Verfahren initial am meisten Korrektur erreicht wird, mit zunehmender Behandlungsdauer die Wirbels&auml;ule im Bereich der Distraktionsstrecke immer rigider wird und bei finalem Ausbau und Fusion h&auml;ufig nur mehr wenige Bewegungssegmente beweglich sind. Mit Ausnahme der Schienung mit der Shilla-Instrumentation (und Luque-Trombone) verwenden alle Systeme die Distraktion als Korrekturmechanismus. Dorsale Distraktion der Wirbels&auml;ule, wenngleich vorwiegend auf der Konkavseite, bedeutet, dass die Wirbels&auml;ule kyphosiert wird. Dadurch wird der Verlauf des Distraktionsstabes oder der St&auml;be im&shy;mer mehr gekr&uuml;mmt, und distrahierende Kr&auml;fte werden dadurch geringer.<br />Stabbr&uuml;che und Schraubenausrisse kommen h&auml;ufig vor, in ca. 40 % aller Behandlungsverl&auml;ufe. Es gibt keinen Beleg daf&uuml;r, dass eine Korsettfixation diese Komplikationsrate verringert. Mit Zwei&shy;stab-Konstrukten tritt diese Komplikation etwas weniger h&auml;ufig auf.<br />Die Korrelation zwischen Korrektur der Wirbels&auml;ulenkr&uuml;mmung und Verbesserung der Lungenfunktion ist leider nicht besonders gut. Einerseits hat dies vermutlich damit zu tun, dass die Neubildung von Alveolen zwar bis in die Adoleszenz erfolgt, allerdings ab dem 2. Lebensjahr deutlich abnimmt. Ein fr&uuml;h eingetretenes Defizit kann dann nicht mehr aufgeholt werden. Andererseits k&ouml;nnten breitfl&auml;chige Pleuraadh&auml;sionen nach Osteotomie von Rippensynostosen ein Problem darstellen. Der Sachverhalt ist auch schwierig zu untersuchen, da Lungenfunktionsproben bei Kindern unter 5&ndash;6 Jahren an der mangelnden Kooperation scheitern.<br />Kinder, welche oft operiert werden, sind psychisch belastet. Aggression und rollenbrechendes Verhalten wurden beschrieben. Je fr&uuml;her der Beginn der Behandlung, desto ausgepr&auml;gter sind die &Auml;nderungen. Bei sehr h&auml;ufig operierten Kindern tritt allerdings eine Besserung ein, die mit &bdquo;posttrau&shy;matischer Reifung&ldquo; erkl&auml;rt wird.</p> <h2>Behandlungserfolg</h2> <p>In den meisten F&auml;llen ist die Kr&uuml;mmung nach Behandlungsabschluss nicht st&auml;rker als bei Behandlungsbeginn, h&auml;ufig deutlich besser. Die zugrunde liegende Pathologie bestimmt stark das Ergebnis im Einzelnen. Rumpfverk&uuml;rzungen oder abschnittweise Verk&uuml;rzungen der Wirbels&auml;ule bei Myelomeningozele und kongenitalen Deformit&auml;ten sind auch der Pathologie geschuldet. Die Lungenfunktion ist ebenso abh&auml;ngig von der Pathologie, z.B. bei Muskelerkrankungen oder Thorax-Insuffizienz-Syndrom. Angesichts der Schwere der Erkrankung bei Behandlungsbeginn wird in den meisten F&auml;llen durch die Wachstumslenkung ein Leben ohne starke Behinderung durch die Wirbels&auml;ulenverkr&uuml;mmung erm&ouml;glicht.</p></p> <p class="article-footer"> <a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a> <div class="collapse" id="collapseLiteratur"> <p>&bull; Akbarnia B, Emans JB: Complications of growth-sparing surgery in early onset scoliosis. Spine 2010; 35: 2193-204&bull; Campbell RM et al: Expansion thoracoplasty: the surgical technique of opening-wedge thoracostomy. Surgical technique. J Bone Joint Surg Am 2004; 86: 51-64 &bull; McCarthy RE, McCullough FL: Shilla growth guidance for early-onset scoliosis: results after a minimum of five years of follow-up. J Bone Joint Surg Am 2015; 97: 1578-84 &bull; Metkar U et al: Magnetically controlled growing rods for scoliosis surgery. Expert Rev Med Devices 2017; 14: 117-26</p> </div> </p>
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