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Fallbericht einer 12-Jährigen aus Ecuador

Unterschenkelamputation oder Tibiarekonstruktion

<p class="article-intro">Wer einmal im näheren oder ferneren Ausland als Unfallchirurg arbeitet, erkennt sehr rasch die Bedeutung der bei uns geübten Systematik in Diagnose und Therapie. Diese ist letztlich Grundvoraussetzung für gute Behandlungsergebnisse. Der folgende Fallbericht zeigt, was passiert, wenn Richtlinien fehlen oder ignoriert werden und welchen Aufwand es benötigt, ein ursprünglich relativ wenig verletztes Bein eines Kindes zu retten.</p> <p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>Die Gesamtkosten betrugen etwas mehr als 20.000 Euro, wobei die chirurgische Behandlung im Orthop&auml;dischen Spital Speising kostenfrei war. Der Betrag wurde durch Spenden vom Rotary Club Klagenfurt, von Humanomed Klagenfurt, von Mitarbeitern des UKH Klagenfurt sowie von Privatpersonen aufgebracht.</li> <li>Besonders zu danken ist den Mitarbeitern von LEF&Ouml; &ndash; Beratung, Bildung und Begleitung f&uuml;r Migrantinnen, Wien, dem Malteser Care-Ring Wien und den Mitarbeitern des Orthop&auml;dischen Spitals Speising f&uuml;r ihre Mitarbeit und Unterst&uuml;tzung sowie dem Rotary Club Klagenfurt.</li> </ul> </div> <p>Das 2003 geborene gesunde M&auml;dchen wurde im Alter von 10 Jahren von einem Fahrzeug niedergesto&szlig;en. Die Einlieferung in das Regionalkrankenhaus einer mittelgro&szlig;en ecuadorianischen Stadt erfolgte ohne Verz&ouml;gerung unmittelbar vom Unfallort. Die Aufnahmediagnose lautete: zweitgradig offene Tibiafraktur rechts (Abb. 1). Nach Wundversorgung wurde das Bein in einer dorsalen Gipsschale fixiert.</p> <p>Retrospektiv berichteten die Eltern, dass das M&auml;dchen sehr rasch und zunehmend &uuml;ber starke Schmerzen im Bein klagte und dass die Zehen blau und k&uuml;hl waren. Nach 3 oder 4 Tagen fiel das auch den &Auml;rzten auf (Abb. 2a), welche schlie&szlig;lich ein Knier&ouml;ntgen (Abb. 2b) sowie eine Beinangiografie (Abb. 2c) veranlassten. Die Epiphysenl&ouml;sung des distalen Femur war wohl schon am prim&auml;ren Bild zu sehen (Abb. 1b), jedoch bisher nicht gew&uuml;rdigt worden. Schriftliche Befunde, vor allem auch vom Unfalltag, fehlen weitgehend, sodass der Ablauf nicht rekonstruiert werden kann.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Jatros_Ortho_1702_Weblinks_s12.jpg" alt="" width="1415" height="1091" /></p> <p>Die Epiphysenl&ouml;sung lie&szlig; sich noch geschlossen ideal reponieren und mittels Bohrdr&auml;hten fixieren. Da die Poplitealarterie selbst unverletzt geblieben war, war die Durchblutung des Beines dadurch wiederhergestellt. Es entstand jedoch ein Kompartmentsyndrom des Unterschenkels mit ausgedehnten Muskelnekrosen und permanenter Peroneus- und Tibialisl&auml;hmung. In mehreren Eingriffen wurde das nekrotische Muskelgewebe reseziert, jedoch kam es wahrscheinlich &uuml;ber diesen Weg zur Osteitis der Tibia. Erst durch eine ausgedehnte Sequestrektomie an der Tibia konnte der Infekt beruhigt werden. Der dadurch entstandene Defekt in Schaftmitte von rund 6cm L&auml;nge wurde durch Palacos&reg;-Zement aufgef&uuml;llt (Abb. 3a).</p> <p>Nach Ablauf eines Jahres und mehr als 25 operativen Eingriffen resultierte bei saniertem Infekt ein stark atropher Unterschenkel mit blanden Narben, fixierter Spitzfu&szlig;stellung, Krallenzehenbildung, fehlender Motorik und herabgesetzter Sensibilit&auml;t des Fu&szlig;es (Abb. 3b). Dieses Bein war nat&uuml;rlich ohne Funktion.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Jatros_Ortho_1702_Weblinks_s13_1.jpg" alt="" width="1417" height="860" /></p> <p>1 Jahr nach dem Unfall standen die Chirurgen schlie&szlig;lich vor der Frage, ob es zur Amputation noch eine Alternative g&auml;be. In Ecuador war eine Sanierung des Tibiadefektes als nicht durchf&uuml;hrbar erkannt worden, nachdem ein letzter Versuch eines ausl&auml;ndischen Arztes vor Ort mittels Transplantation von autogener Spongiosa und Verschraubung der intakten Fibula an das Schienbein erwartungsgem&auml;&szlig; erfolglos geblieben war (Abb. 4).</p> <p>In dieser Situation wurden wir mit dem Problem konfrontiert und fanden, dass eine L&ouml;sung technisch m&ouml;glich sei. Dazu musste die Patientin jedoch nach &Ouml;sterreich transferiert werden. Es folgten umfangreiche logistische Aktionen (Visum, Geld, Unterkunft, Betreuung, Dolmetsch etc.), um Kind und Mutter eineinhalb Jahre nach dem Unfall zur Behandlung nach Wien holen zu k&ouml;nnen. Erst nach der Zusage, dass die Behandlung im Krankenhaus Wien-Speising ohne Kosten erfolgen k&ouml;nne, konnte die Behandlung begonnen werden.</p> <p>Im November 2014 wurde bei pr&auml;operativ bestehender Beinl&auml;ngendifferenz von 6cm die Pseudarthrose im Bereich der Tibiadiaphyse in einem Ausma&szlig; von 5,5cm reseziert und ein Bilevel Taylor Spatial Frame mit Fu&szlig;einschluss am rechten Unterschenkel angebracht. Eine zus&auml;tzliche proximale Tibiakortikotomie wurde durchgef&uuml;hrt zwecks internen Knochentransports von proximal nach distal mithilfe eines flexiblen Kabels. Ziel war es, den dis&shy;talen Defekt nach proximaler Kallusbildung zu schlie&szlig;en. Der Segmenttransport dauerte 105 Tage, die geplante distale Dockingoperation mit Spongiosaplastik wurde im Februar 2015 vorgenommen (Abb. 5).</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Jatros_Ortho_1702_Weblinks_s13_2.jpg" alt="" width="1417" height="1229" /></p> <p>Der Aufenthalt in Wien dauerte insgesamt 5 Monate. Weitere 5 Monate nach der Anschluss-OP wurde der Fixateur durch einen Gipsverband f&uuml;r 3 Monate ersetzt. Gegen die Vereinbarung wurde der Oberschenkelgips in Ecuador jedoch durch lokale &Auml;rzte bereits nach 4 Wochen gegen einen Unterschenkel-Sarmiento ausgewechselt. Wie bef&uuml;rchtet, kam es dabei zu einer chronischen Fraktur der Tibia im Bereich der Distraktionsstrecke. Der Einsatz von Markdr&auml;hten plus Oberschenkelgips f&uuml;r 6 Wochen f&uuml;hrte schlie&szlig;lich zur Konsolidierung (Abb. 6). Die beiden letzten operativen Eingriffe wurden von uns in Ecuador durchgef&uuml;hrt.</p> <p>Jetzt, 4 Jahre nach dem Unfall, nach mehr als 30 Operationen und 1 Jahr nach Abschluss der chirurgischen Behandlung, kann das M&auml;dchen das Bein nahezu schmerzfrei und ohne Gehhilfe belasten und tr&auml;gt normale Sportschuhe mit einer Ferseneinlage. Es besteht eine Verk&uuml;rzung des Unterschenkels um klinisch 3&ndash;4cm bei Spitzfu&szlig;stellung sowie spontan versteiftem oberem Sprunggelenk. Die Wunden sind alle bland abgeheilt, das Kniegelenk ist frei beweglich. Der Fu&szlig; ist gut durchblutet, die Sensibilit&auml;t eingeschr&auml;nkt, Zehen und Vorfu&szlig; k&ouml;nnen aktiv nicht bewegt werden.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Jatros_Ortho_1702_Weblinks_s14.jpg" alt="" width="684" height="1290" /></p> <h2>Diskussion</h2> <p>Diese Kasuistik ist ein eindrucksvolles Beispiel einer Fehleransammlung, wie sie in Einrichtungen ohne Behandlungsstandards immer wieder zu beobachten ist. Das ist in manchen L&auml;ndern ein grundlegendes Problem, welches unseres Erachtens f&uuml;r mehr negative Resultate verantwortlich ist als der Mangel an medizinischer Ausr&uuml;stung. Auch besteht heute dank des Internets kein Wissensdefizit mehr, sind doch alle Informationen jederzeit einfach und von beinahe jedem Ort der Welt aus einzuholen.</p> <p>Eigentlich lernt man erst anhand derartiger negativer Beobachtungen die Bedeutung der uns gel&auml;ufigen standardisierten Prozessabl&auml;ufe und systematischen Behandlungsalgorithmen wirklich kennen und sch&auml;tzen. Im Falle dieser Patientin haben sich die Folgen einer oberfl&auml;chlichen Erstuntersuchung und damit einer inkompletten Diagnose plus nachl&auml;ssiger weiterer Betreuung zu einer katastrophalen Situation verdichtet. Nach lokalen Gegebenheiten w&auml;re die Amputation des Beines unausweichlich gewesen, wohingegen die urspr&uuml;nglichen Verletzungen bei korrekter Behandlung eine folgenlose Ausheilung erwarten h&auml;tten lassen k&ouml;nnen.</p> <p>Die Frage, ob Kosten und Aufwand, welche f&uuml;r die gesamte Aktion erforderlich waren, zu rechtfertigen sind, ist nicht unlauter. Man kann sicher einwenden, dass f&uuml;r diesen Betrag 30 oder sogar mehr Kataraktoperationen in Afrika zu finanzieren w&auml;ren, w&auml;hrend hier eine einzige Beinamputation umgangen wurde. Eine &ndash; ethisch zweifelhafte &ndash; Wertung w&uuml;rde wohl zugunsten der Augen-OPs erfolgen m&uuml;ssen, aber die Abw&auml;gung hat sich uns aus nachvollziehbaren Gr&uuml;nden nicht gestellt. Es gab keine Alternative: Wir konnten lediglich entscheiden, ob wir die Funktion des Beines wiederherstellen k&ouml;nnen und wollen oder nicht.</p></p>
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