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Im Team besser arbeiten und das Outcome verbessern
Leading Opinions
30
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20.10.2016
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<p class="article-intro">«Zusammen», so das Motto der diesjährigen SwissFamilyDocs Conference, die Anfang September in Montreux stattfand. Trotz schönstem Spätsommerwetter waren Seminare und Workshops rege besucht, und auch in den Pausen am Ufer des Genfer Sees hörte man die Teilnehmer angeregt über die Vorträge diskutieren. Hausärzte müssen sich in allen Fachgebieten bestens auskennen, stets über Neuigkeiten informiert sein, sich Zeit für ihre Patienten nehmen, und gleichzeitig gibt es immer weniger Geld dafür. Wie soll man sich diesen Herausforderungen stellen? Ein möglicher Ansatz: Arbeiten im Team verbessert das Outcome – und es macht mehr Spass.</p>
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<p class="article-content"><p><img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_Leading Opinions_Innere_1605_Weblinks_seite10.jpg" alt="" width="" height="" /></p> <p>Nichts geht mehr ohne eine enge Kooperation aller Menschen, die sich um Patienten kümmern, man muss fruchtbar und effektiv zusammenarbeiten, damit Stärken gebündelt und Synergien geschaffen werden. Denn das kommt den Patienten und allen Beteiligten zugute. Wie gute Zusammenarbeit funktioniert und welche Kompetenzen man dafür braucht, war eines der zentralen Themen am Kongress.<br /> «Für uns Ärzte in der Schweiz ist es wichtig, nicht nur Medizin zu machen, sondern zusammen Medizin zu machen», sagte Dr. med. Marc Müller, Allgemeinarzt in Grindelwald. «Unser Gesundheitssystem ist aber bisher nicht organisiert, um in dieser Art zu praktizieren. Wir müssen die Gesundheitspolitiker davon überzeugen, wie wichtig interprofessionelles Zusammenarbeiten ist und dass entsprechende Strukturen dafür geschaffen werden müssen.»</p> <div id="rot"> <p>«Wir Hausärzte sind Spezialisten, wir werden gebraucht, und darauf können wir stolz sein!» - I. Oandasan, Toronto</p> </div> <p>«Die Art und Weise, wie junge Ärztinnen und Ärzte heute Medizin praktizieren, ist vor allem im Hausarztbereich anders als früher», sagte Prof. Dr. med. Ivy Oandasan, Professorin am Department of Family & Community Medicine der Universität in Toronto. «Die ‹Millennials› legen mehr Wert auf Work-Life-Balance, weshalb man heute mitunter zwei Hausärzte braucht, um einen Hausarzt zu ersetzen, der in Pension geht.» Die Hausarztmedizin wird immer stärker, und Hausärzte werden gebraucht. «Die neue Hausarztgeneration möchte im Team arbeiten. Wir Älteren kennen das nicht so, aber die Jüngeren sind daran gewöhnt. Darauf müssen wir uns einstellen», sagte Oandasan. Zehn Minuten haben Hausärzte im Schnitt, um einen Patienten zu sehen. «Das reicht hinten und vorne nicht.» Die Menschen leben heute länger und leiden viel öfter unter chronischen Krankheiten – das braucht Zeit für Gespräche und Erklärungen. Ob es die richtige Lösung sei, mehr Ärzte auszubilden, bezweifelt Oandasan. «Wir wissen ja nicht, wo die Ärzte dann hingehen. Vielleicht ergreifen viele von denen nichtmedizinische Berufe.»</p> <h2>Ein «medizinisches Zuhause» schaffen</h2> <p>Fühlt sich der Patient beim Hausarzt und seinem Team wie in einem «Zuhause» aufgehoben, geht es ihm gesundheitlich besser und man spart auch noch Kosten, wie Wissenschaftler aus Boston 2004 zeigten.<sup>1</sup> «Wir müssen zusammenarbeiten. Nicht nur, weil es nett ist, sondern weil es die Qualität der Behandlung verbessert», betonte Oandasan. Und das ist auch ein schlagendes Argument für die Gesundheitspolitiker, warum sie interprofessionelles Arbeiten unterstützen sollten. Als Beispiel, wie man es nicht machen sollte, erzählte Oandasan die Geschichte ihrer Schwester. Diese hatte im Alter von 48 Jahren einen Schlaganfall erlitten. Nach der erfolgreichen Behandlung im Spital wurde sie ohne Arztbrief entlassen. «Der Hausarzt hatte keine Ahnung, was für Medikamente sie bekommen hatte und was im Spital gemacht worden war», berichtete sie. Im darauffolgenden Jahr sei ihre Schwester Dutzende Male bei Ärzten gewesen. «Aber meine Schwester war die einzige, die die Behandlungen dokumentiert und gemanagt hat. Sie hat alles in ein grosses Buch eingetragen, um den Überblick zu behalten. Und sie hat mich immer wieder gefragt ‹Reden die Ärzte, Pfleger und die anderen Mitarbeiter eigentlich nie miteinander?›»</p> <h2>Hindernis: der Charakter der Ärzte</h2> <p>Die WHO hat 2010 beschrieben, was interprofessionelle Zusammenarbeit bedeutet: mit Patienten, ihren Familien, Pflegenden und der Gemeinschaft zusammenzuarbeiten, um die höchste Qualität der Versorgung zu garantieren. Dadurch kann das Outcome von Menschen mit chronischen Krankheiten wie Diabetes oder psychiatrischen Erkrankungen, von älteren Menschen und bei Impfungen oder bei der Aufklärung von sexuell übertragbaren Krankheiten verbessert werden.<br /> Nicht selten scheitert nach Ansicht von Oandasan die interprofessionelle Zusammenarbeit am Charakter der Ärzte. «Viele denken, nur sie selbst könnten bestimmte Untersuchungen machen, und trauen dies Vertretern anderer medizinischer Berufsgruppen nicht zu.» Das sei wie früher im Sandkasten. «Dort will man auch nicht, dass andere Kinder mitspielen. Aber wir müssen interprofessionelles Arbeiten lernen – und zwar von Anfang an.» In Kanada sei es inzwischen in manchen Fächern Pflicht, dass Medizinstudierende und Auszubildende von Gesundheitsberufen miteinander lernen. Ein «gut funktionierender interprofessionell arbeitender Sandkasten» brauche jedoch nicht nur Teamwork, sondern auch Forschung, Führung und Finanzierung. «Dafür müssen Sie sich als Hausärzte einsetzen», forderte die Professorin. «Der neue Weg braucht Mut, Zeit und ist anstrengend. Aber es lohnt sich: zum Wohle der Patienten.»</p> <div id="rot"> <p>«Die kulturelle Vielfalt ist auch in den Arztpraxen eine Realität.» - P. Bodenmann, Lausanne</p> </div> <h2>Ein transkulturell kompetenter Arzt werden</h2> <p>Zu einer guten Zusammenarbeit gehört auch, dass man auf Menschen aus anderen Kulturen eingeht – im Zuge der aktuellen Flüchtlingssituation wird dies immer wichtiger. «In der Schweiz haben wir eine grosse Vielfalt an fremden Kulturen», sagte Dr. med. Patrick Bodenmann, Leiter des Zentrums für vulnerable Personen am Universitätsspital Lausanne. In der Strategie 2020 des Bundes wird die gerechte Betreuung bei Vielfalt explizit erwähnt. «Auch der Bund nimmt das Thema also ernst», so Bodenmann. Um mit Menschen aus anderen Kulturen umgehen zu können, braucht es «transkulturelle Kompetenzen»: Fähigkeiten, Wissen und den richtigen «Blickwinkel». Obwohl sie über das gleiche Thema sprechen, haben ein Arzt und ein Patient, die aus unterschiedlichen Kulturkreisen kommen, einen unterschiedlichen Blickwinkel auf das Thema. «Ein Arzt mit kulturellen Kompetenzen erweitert seinen Blickwinkel und nimmt denjenigen des Patienten ein – so kann er viel besser auf ihn und seine Wünsche eingehen.» Dies verbessert erwiesenermassen die Patientenzufriedenheit, die Therapieadhärenz und das Outcome.<sup>2</sup><br /> <br /> Dr. med. Melissa Dominicé Dao von der Abteilung für Allgemeinmedizin am Universitätsspital Genf erklärte, was es braucht, um ein «guter transkultureller Arzt» zu sein. Zunächst muss er ein Kommunikator sein. Er muss zum Patienten eine Beziehung aufbauen und Barrieren – zum Beispiel sprachliche – überwinden. «Ohne Dolmetscher kann es passieren, dass man die falsche Therapie wählt», sagte Dominicé Dao. Arbeitet man mit Dolmetschern zusammen, muss man sehr genau sein in seinen Erklärungen. Ein transkulturell arbeitender Arzt muss zudem professionell sein und die berufsethischen Regeln einhalten. Was eigentlich selbstverständlich tönt, ist für die Versorgung von Menschen aus einer anderen Kultur besonders wichtig. Sind unsere Werte universell anwendbar? Gelten diese auch für den Patienten aus einer anderen Kultur? Wichtiger als sonst im Alltag sei es vielleicht auch, dass sich Ärzte gut um sich selbst kümmern. «Manchmal ist man gerade mit Menschen aus anderen Kulturen sehr empathisch», sagte Dominicé Dao. «Das kann einen emotional sehr belasten.» Als transkulturell arbeitender Mediziner muss man sich auch besonders weiterbilden: Möglicherweise sind Menschen aus anderen Kulturen nicht in Studien eingeschlossen und man weiss nicht, ob die Ergebnisse auch für sie gelten. Wichtig ist es auch, sich mit den Krankheiten auszukennen, die im Herkunftsland des Patienten typisch sind, bei uns aber kaum vorkommen. Oft muss man sich für diese Patientengruppe auch besonders einsetzen, z.B. dafür, dass die Dolmetscher von der Krankenversicherung bezahlt werden. Man muss zudem gut im Team arbeiten können. Dazu gehören nicht nur Kollegen, Pflegepersonal oder andere Mitarbeiter im Gesundheitswesen, sondern auch nichtmedizinische Mitarbeiter. So kann man beispielsweise der Putzfrau aus der Türkei erklären, wie wichtig ihre Arbeit ist, um die Ausbreitung von Keimen zu verhindern. Wer sich näher mit dem Thema befassen möchte, findet unter www.elearning-iq.ch ein E-Learning-Programm zum professionellen Umgang mit Patientinnen und Patienten mit Migrationshintergrund (Abb. 1).</p> <p><img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_Leading Opinions_Innere_1605_Weblinks_seite12.jpg" alt="" width="" height="" /></p> <div id="rot"> <p>«Neben den gängigen Krankheiten muss man sich als transkulturell arbeitender Arzt auch mit exotischen Erkrankungen auskennen.» - Melissa Dominicé Dao, Genf</p> </div> <h2>Erfolgreiche Versorgung im Team</h2> <p>Wie sich interprofessionelles Arbeiten erfolgreich in die Praxis umsetzen lässt, berichteten Dr. med. Marc Jungi, Leitender Arzt der Sanacare Gruppenpraxis in Bern, und Nicole Joos, medizinische Praxisassistentin in Weiterbildung zur medizinischen Praxiskoordinatorin in klinischer Richtung bei Sanacare. Im Sanacare-Netzwerk werden von rund 100 Ärzten und zehn Praxis-assistenten etwa 110 000 Patienten betreut. «Wir haben hier im Verbund von hausärztlichen Gruppenpraxen natürlich ganz andere Möglichkeiten als in einer Einzelpraxis», sagte Jungi. «Aber jeder kann versuchen, mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln so gut es geht interprofessionell zu arbeiten.» Sanacare hat ein «Chronic Care Management» (CCM) eingeführt, um dem zunehmenden Problem der immer älter werdenden Bevölkerung zu begegnen. «Wir haben immer mehr ältere, multimorbide Patienten – darauf müssen wir bei der Versorgung eingehen.»<br /> Im CCM-Konzept gibt es zwei Programmpfade, einen für schwer kranke Patienten und einen für Patienten mit einer Erstdiagnose. Ziel beim schwer kranken Patienten ist, den Umgang mit seinen Krankheiten, also das Selbstmanagement, zu verbessern und ihn dabei zu unterstützen, seine Ziele zu erreichen. Nach einem Jahr wird evaluiert, ob und wie gut das geklappt hat. Ein neu erkrankter Patient wird über die Krankheit aufgeklärt, er lernt, wie er damit umgehen kann, und es werden Ziele formuliert. «Wir wollen kein Disease Management machen», erklärte Jungi, «denn die meisten dieser Patienten haben mehrere Krankheiten.»<br /> Bei Sanacare gibt es für fünf häufige Krankheiten und Kombinationen von Krankheiten ein CCM-Programm: Diabetes Typ 2, arterielle Hypertonie, COPD, Hypertonie und Diabetes, Hypertonie und COPD. In jedem Programm spielen verschiedene Akteure mit (Abb. 2). Ein Behandlungsteam aus Arzt und Coach evaluiert die Krankengeschichte, untersucht den Patienten, stellt die Diagnose und vereinbart Ziele. Der Patient sieht daraufhin auf seinem strukturierten Behandlungspfad seinen Coach und seinen Arzt und im Notfall natürlich jederzeit ebenfalls einen Arzt. Bei Problemen überweist dieser den Patienten an den Spezialisten, der ebenfalls Teil des CCM-Teams ist. «Das sieht starr aus, aber wir passen es individuell an den Patienten an», sagte Jungi. Für Hausarzt und Coach gibt es Leitlinien, Algorithmen und Checklisten. Alle Dokumentationen sind in der elektronischen Krankenakte gespeichert oder online verfügbar.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_Leading Opinions_Innere_1605_Weblinks_seite13.jpg" alt="" width="" height="" /></p> <div id="rot"> <p>«CCM lässt sich im Hausarztbereich implementieren und ist für alle Beteiligten praktizierbar.» - M. Jungi, N. Joos, Bern</p> </div> <p>Nicole Joos mag ihre neue Aufgabe als Coach sehr. Sie schult die Patienten im Selbstmanagement, führt diverse Untersuchungen und Tests durch, validiert die Dokumentation des Patienten, leitet ihn durch das Programm, ist verantwortlich für die komplette Dokumentation der Programmelemente und unterstützt den Arzt dabei, dass regelmässig alle vorgesehenen Untersuchungen durchgeführt werden. «Wichtig ist die Abgrenzung zum Arzt», sagte Joos. «Es ist genau festgelegt, was ich als Coach darf und was nicht, wann ich den Arzt dazuholen muss und wann es ein Notfall ist.» Dabei arbeiten Arzt und Coach auf Augenhöhe zusammen, mit Fachführung durch den Arzt. «Am Anfang waren die Ärzte kritisch und skeptisch», erzählte sie. «Viele haben sich gefragt: ‹Kann ich ihr das abgeben, kann sie das?› Aber als positive Rückmeldungen von den Patienten kamen, waren die Bedenken weg und sie schickten gleich den nächsten Patienten zu mir.»<br /> Die Ziele werden gemeinsam mit dem Patienten formuliert. «Ich versuche, ihn von realistischen Zielen zu überzeugen, damit die Motivation erhalten bleibt», erklärte Loos. Einmal im Jahr setzen sich Arzt und Coach mit dem Patienten zusammen. «Das geniessen die Patienten sehr – von zwei Seiten Aufmerksamkeit zu bekommen.»<br /> Jungi erarbeitete 2013 mit seinem Team das CCM-Konzept, 2014 wurden 262 Patienten eingeschlossen und 2015 waren es schon 550. Das häufigste CCM-Programm «Hypertonie und Diabetes Typ 2» erfülle die Kriterien eines guten Disease-Management-Programms, berichtete Jungi. Im Schnitt haben 68 % der Patienten ihr jeweiliges Ziel erreicht, also etwa den Zielblutdruck oder eine Änderung des Lebensstils. «CCM lässt sich im Hausarztbereich implementieren», so das Fazit des Allgemeinarztes, «und ist für alle Beteiligten praktizierbar.» Das Arbeiten im interprofessionellen Team klappt gut und wird von Patienten, Ärzten und Praxisassistentinnen gut akzeptiert. Die EBM-basierten Behandlungspfade helfen, eine systematische Abklärung und Therapie einzuhalten. Die klinischen Outcomefaktoren sind ermutigend, und die Patienten werden qualitativ sehr gut versorgt. «Wer gute Ideen hat, sollte sich nicht von noch nicht ausgereiften Rahmenbedingungen abschrecken lassen», schloss Jungi. «Interprofessionelles Arbeiten ist wichtig und ausserdem macht es mehr Spass.»</p></p>
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<p><strong>1</strong> Starfield B, Shi L: The medical home, access to care, and insurance: a review of evidence. Pediatrics 2004; 113: 1493-8 <strong>2</strong> Betancourt JR, Green AR: Racial and ethnic disparities in health care. Harrison’s Principles of Internal Medicine, McGraw-Hill Education, 2015</p>
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