© Aleksandr Rybalko iStockphoto

Originalzitate vom Praxisforscher Robert N. Braun

Gegen den Begriffsnotstand in der Allgemeinpraxis

<p class="article-intro">Was in den Lehrbüchern steht und was die Ausbildung vermittelt, hat nur bedingt mit der Realität in der Allgemeinpraxis zu tun. Zu dieser Erkenntnis kam Prof. Dr. Robert N. Braun in seinen ersten Praxistagen 1944, ebenso wie viele Kollegen zuvor.</p> <hr /> <p class="article-content"><p>Als durch und durch wissenschaftlich denkender Mensch wollte Braun sich nicht mit den Unzul&auml;nglichkeiten der Ausbildung zum Arztberuf abfinden. Er begann sein eigenes Handeln in der Praxis zu analysieren. Hand in Hand mit den neu gewonnenen Erkenntnissen aus dieser Analyse erfolgte das &Uuml;berwinden manch eines Begriffsnotstands.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_DAM_Allgemeinm_1608_Weblinks_seite27.jpg" alt="" width="" height="" /></p> <h2>Abwendbar gef&auml;hrliche Verl&auml;ufe und Respektanda</h2> <p><em>&bdquo;Bringt man die Untersuchungselemente erfahrener Praktischer &Auml;rzte zu den typischen Ursachen f&uuml;r abnorme Befunde in Beziehung, so zeigt sich: Die Bem&uuml;hungen der Allgemeinmediziner gelten hier u.a. Krankheiten, die bedrohlich sind oder bedrohlich werden k&ouml;nnen &ndash; wie dem Krebs, der Zuckerkrankheit, der Appendizitis, der Pneumonie usw. Entdeckt er fr&uuml;hzeitig Zeichen, die auf derlei Gesundheitsst&ouml;rungen hinweisen, so l&auml;sst sich ein gef&auml;hrlicher Verlauf oft genug abwenden. Solche Krankheiten nenne ich abwendbar bzw. potenziell gef&auml;hrlich. F&uuml;r diejenige Gruppe von Krankheitsverl&auml;ufen, die bei einer bestimmten diagnostischen Lage ber&uuml;cksichtigt werden sollten, verwende ich den Namen Respektanda (d.h.: die zu respektieren sind).&ldquo;</em><sup>1</sup></p> <p><em>&bdquo;Dabei muss ein Rahmen gebildet werden, der die Mittel und die Zeit ber&uuml;cksichtigt, die an der ersten Linie verf&uuml;gbar sind. Die Respektanda setzen sich einerseits aus h&auml;ufigen Krankheiten und andererseits aus abwendbar gef&auml;hrlichen seltenen Gesundheitsst&ouml;rungen zusammen.&ldquo;</em><sup>2</sup></p> <p><em>&bdquo;Was haben nun die W&ouml;rter ,Respektanda&lsquo; und ,abwendbar gef&auml;hrliche Verl&auml;ufe&lsquo; mit der Allgemeinpraxis zu tun? Sie heben begrifflich etwas heraus, was f&uuml;r die Methodik der Alltagsdiagnostik wesentlich ist.&ldquo;</em><sup>1</sup></p> <h2>F&auml;lleverteilungsgesetz</h2> <p><em>&bdquo;Das Krankengut aus den drei verschiedenen Praxen, in aufeinanderfolgenden verschiedenen Jahren gesehen, unterschied sich nicht wesentlich. Ein Vergleich mit damals eben publizierten britischen Statistiken ergab, dass auch gegen&uuml;ber diesen keine unerkl&auml;rbaren gr&ouml;&szlig;eren Differenzen feststellbar waren. Dieses, offenbar sehr wichtige Ph&auml;nomen von Regelm&auml;&szlig;igkeiten wurde von mir als F&auml;lleverteilungsgesetz bezeichnet.&ldquo;</em><sup>3</sup></p> <h2>Beratungsursache und direkte Diagnostik</h2> <p><em>&bdquo;Die ,Beratungsursache&lsquo; ist, was den Patienten zum Arzt gebracht hat. Gewiss m&ouml;gen einzelne Kranke zun&auml;chst &ndash; bewusst oder unbewusst &ndash; ein Angebot vor die Beratungsursache schieben; aber in der Allgemeinmedizin hat man leider nicht die Zeit, dem nachzugehen. So nimmt man gezwungenerma&szlig;en die ge&auml;u&szlig;erte Ursache zun&auml;chst f&uuml;r die tats&auml;chliche. Damit f&auml;hrt der Arzt fast ausnahmslos sehr gut, zumal sich die ,Angebote&lsquo; &uuml;ber kurz oder lang zu ,demaskieren&lsquo; pflegen. Konkret gesprochen, h&auml;ngt die allgemeinmedizinische Diagnostik von der Antwort auf die Frage ,Warum kommen Sie zu mir?&lsquo; ab. Die Frage selbst kann &uuml;berfl&uuml;ssig sein, wenn der Patient etwa erkl&auml;rt, in seinem Geh&ouml;rgang m&uuml;sse sich ein Insekt befinden. Hier ist die Beratungsursache so klar, dass die Strategie sich von selbst ergibt: Man sieht in den Geh&ouml;rgang, und da findet sich ein Insekt, das einen teilweisen Zeruminealverschluss am R&uuml;ckweg nicht mehr zu &uuml;berwinden vermochte. Bei dieser ,direkten Diagnostik&lsquo; wird unter Vernachl&auml;ssigung aller sonstiger Erhebungen und Untersuchungen eine bestimmte Verifizierung direkt durchzuf&uuml;hren versucht. Es ist ein &uuml;beraus &ouml;konomisches, aber leider nur in etwa zehn Prozent der F&auml;lle erfolgreiches Verfahren. Die direkte Diagnostik wird m&ouml;glich durch pr&auml;zise Angaben und/oder ,kardinale&lsquo; beziehungsweise ,bestimmende&lsquo; Befunde. Sagt der Kranke etwa, seit einigen Tagen w&auml;ren einseitig am Rumpf schmerzende Bl&auml;schengruppen aufgetreten, so ahnt der erfahrene Arzt schon das Vorliegen einer G&uuml;rtelrose. Er fordert den Kranken auf, die betreffende Region zu entbl&ouml;&szlig;en und erkennt die Bl&auml;schengruppen. Aus der &Uuml;bereinstimmung zwischen den charakteristischen Angaben und dem Befund resultiert die rasche Einengung auf einige wenige diagnostische M&ouml;glichkeiten.&ldquo;</em><sup>3</sup></p> <h2>Beratungsergebnisse, Diagnosen und &hellip;</h2> <p><em>&bdquo;Eine der wichtigsten Erkenntnisse betrifft die allgemeinpraktischen Beratungsergebnisse. Tragen wir praktische &Auml;rzte doch beispielsweise auf unseren Krankenscheinen, in die Protokollb&uuml;cher der Krankenversicherungen usw. nach den Beratungen meistens Diagnosen ein. Wir sind uns dabei kaum bewusst, wie weit das, was wir von unseren Untersuchungen her wirklich wissen, von einer &uuml;berzeugenden Krankheitsfeststellung entfernt bleibt. Solche Probleme vermag der kritisch denkende Praxisforscher aufzudecken. Er fragt dann weiter: Warum geschieht dieses ungerechtfertigte Namhaftmachen von Diagnosen? Und wenn er erkannt hat, dass es sich vor allem um die Erf&uuml;llung einer Rollenerwartung handelt, dann lautet die n&auml;chste Frage, was man denn an die Stelle nicht vertretbarer Diagnosen sonst stellen sollte.&ldquo;</em><sup>4</sup></p> <h2>&hellip; Klassifizierungen</h2> <p><em>&bdquo;Sachlich gesehen, ist es mit dem Anblick der typischen Bl&auml;schengruppen zu einer ,Inklusion&lsquo; gekommen. Damit meint der Berufstheoretiker: einer Einengung aufgrund eines Befundes oder einer Beschwerde, die nur bei sehr wenigen unterschiedlich bedingten Gesundheitsst&ouml;rungen vorkommt. Immerhin ist das diagnostische Problem damit nat&uuml;rlich nicht endg&uuml;ltig gel&ouml;st, wenn man sich auf eine hohe Wahrscheinlichkeit verl&auml;sst. Das Beratungsergebnis kann daher, wenn damit die Diagnostik abgebrochen wurde, keine Diagnose sein. Im angenommenen Fall endet die Beratung mit dem ,Bild&lsquo; eines Herpes zoster. Das Beratungsergebnis ist eine abwartend offengelassene Klassifizierung. An der ersten Linie werden in dieser Weise sehr oft Entscheidungen getroffen, weil es eben nicht anders geht. Wichtig ist nur nicht so zu tun, als h&auml;tte man eine Krankheit exakt erkannt. Es ist blo&szlig; ein kleiner Unterschied, ob man in einem solchen Fall ,Herpes zoster&lsquo; diagnostiziert oder ob man ,nur&lsquo; klassifiziert. Klassifizierung l&auml;sst die T&uuml;re angelehnt offen: Sie nimmt zur Kenntnis, dass nicht nur &uuml;berragende H&auml;ufigkeiten, sondern ebenso Ausnahmen existieren und auch in der wissenschaftlichen Allgemeinmedizin Ber&uuml;cksichtigung gefunden haben. <br />Wesentlich komplizierter als die Problematik rund um kardinale, bestimmende Befunde und die dadurch vorhandene M&ouml;glichkeit, Konklusion und Inklusion zu t&auml;tigen, liegen die Dinge beim Durchschnittsfall. Hier gibt es weder direkte Zuordnungen (Konklusionen) noch Inklusionen, sondern uncharakteristische Beschwerden und uncharakteristische Befunde.<sup>3</sup> <br />Mit der scharfen Formulierung des Diagnosenbegriffes galt es, die bestehende Ordnung zu erweitern und einen regul&auml;ren Platz f&uuml;r die Masse der allgemeinpraktischen Beratungsergebnisse zu schaffen, in denen keine Krankheitserkennungen m&ouml;glich waren. Wir erreichten es, indem wir dem Diagnosenbegriff gleichwertig den Klassifizierungsbegriff zur Seite stellten. Dabei unterscheiden wir zwischen den Klassifizierungen von (Leit-)Symptomen und von Symptomgruppen einerseits und den Klassifizierungen von Krankheitsbildern andererseits. Bei den Letzteren k&ouml;nnen die einschl&auml;gigen Beratungsergebnisse ziemlich nahe an Einzelkrankheiten oder Krankheitsgruppen herangebracht werden. Doch fehlen zur Diagnose unerl&auml;ssliche Elemente, wie z. B. der Erregernachweis bei Infektionskrankheiten. Im &auml;rztlichen Alltag gilt dies etwa f&uuml;r die F&auml;lle von ,Angina tonsillaris&lsquo; oder f&uuml;r die ,Bilder einer Pneumonie&lsquo;.&ldquo;</em><sup>4</sup></p></p> <p class="article-footer"> <a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a> <div class="collapse" id="collapseLiteratur"> <p><strong>1</strong> Braun RN: Ben&ouml;tigt die Allgemeinmedizin neue Begriffe? D Prakt Arzt, Dortmund 4, 1967: 300 <strong>2</strong> Braun RN: Versuch der Entwicklung einer lehrbaren Diagnostik f&uuml;r die Allgemeinpraxis. Situation und Ausblick. Med Welt 1964; 915 <strong>3</strong> Braun RN: Methoden der Allgemeinmedizin einschlie&szlig;lich der Begriffe und der diagnostisch-therapeutischen Strategien. D Prakt Arzt, K&ouml;ln 18, 1976: 3433 <strong>4</strong> Braun RN: Begriffe aus der Allgemeinmedizin. &Ouml;&Auml;Z 23; 1968: 22</p> </div> </p>
Back to top